Kommentar

Besetzung ist, wenn die Berufungskommission nicht mehr liest

Autor/en
  • Götz Kümmerle

Während meines Studiums vor zwanzig Jahren war es die höchste Ehre für Studierende, wenn sie als Teil der Berufungskommission mit über die Neubesetzung eines Lehrstuhls entscheiden konnten: Zig Zeitschriftenartikel wurden durchforstet, Monographien gewälzt und Beiträge in Festschriften und Sammelbänden durchgesehen. In der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre findet davon heute offenbar nichts mehr statt – und das hat schwerwiegende Nachteile.

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Wenn es sich um Lehrstühle der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre handelt, dann geht es heute bei der Berufungspraxis offenbar deutlich profaner zu:

Kein Text muss mehr gelesen, keine Thesen evaluiert oder bewertet werden. Eine schnöde Exceltabelle genügt. Man muss nur nachzählen und zusammenrechnen, in welchen A+-Zeitschriften nach dem Ranking des Verbandes der deutschen Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB) die Lehrstuhl-Anwärterinnen und -Anwärter wie viele Beiträge publiziert haben – und et voilà, schon hat man mit mathematisch untrüglicher Präzision ermittelt, wer der oder die am besten geeignete Bewerber oder Bewerberin ist. Im Grunde kann man sich die gesamte Berufungsarbeit schenken. Ein Algorithmus würde in einer Nanosekunde ermitteln können, wozu man früher Menschen und Monate brauchte.

Aber der schöne lesefreie Berufungsprozess hat einen Haken: Ausgerechnet die steuerwissenschaftliche Modellierung fällt durch das Raster. Durch die Bevorzugung US-amerikanischer Zeitschriften in den Rankings haben nur noch Wissenschaftler eine Chance auf Berufung, die sich deskriptiv und empirisch mit der Vergangenheit beschäftigen. Also dem, was war. Weil ihre Methode auch für Zeitschriften jenseits des Atlantiks interessant ist. Wissenschaftler, die sich mit Blick auf das deutsche Steuerrecht damit beschäftigen, was sein könnte oder was sein wird, haben das Nachsehen. Die Zukunft ist es also, die beim Berufungsprozess den Kürzeren zieht.

Doch bräuchten wir gerade jetzt eine zukunftsorientierte Steuerwissenschaft. Eine Compliancevorschrift jagt die andere. Kaum ein Monat vergeht, an dem nicht an Energie- oder Stromsteuern gedreht wird. Die Energiewende ist voll von steuerrechtlichen Maßnahmen – bis hin zu steuerrechtlichen Erleichterungen für Immobilienfonds und -unternehmen, in die Solarenergie und die Energiebranche einzusteigen. Aber wie wird sich das alles auswirken?

Anfang September will Friedrich Merz das Einkommensteuerrecht ändern, den Spitzensteuersatz verschieben und gleichzeitig erhöhen. Christian Lindner versteht nicht warum und hält umgehend dagegen. Am Montag plädierte der CDU-Vorsitzende dann für eine umfangreiche Reform der Unternehmensbesteuerung. Einnahmen aus Personengesellschaften sollten nicht mehr über die Einkommensteuer besteuert werden. Gewerbe-, Körperschaft- und Einkommensteuer sollten stattdessen nach dem Vorschlag von Merz in einer gemeinsamen Unternehmensteuer aufgehen. Als Steuersatz schwebt Merz ein Satz von 25 Prozent vor. Auch die unterschiedliche steuerliche Behandlung von ausgeschütteten Gewinnen und Gewinnen, die im Unternehmen verbleiben, will Merz streichen – also genau die Fragestellungen, die Professor Dr. Guido Förster im JUVE Steuermarkt-Interview im Zusammenhang mit der Thesaurierungsbegünstigung für nicht entnommene Gewinne bei Personengesellschaften (§ 34a EStG) als Beispiele für Modellierungen innerhalb der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre genannt hat.

Das zeigt, wie brandaktuell Modelle und Modelltheorien in der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre sind und wie dringend sie gebraucht werden, um Folgen und Konsequenzen steuerpolitischer Vorschläge und Initiativen vorhersehen und analysieren zu können. Zur wissenschaftlichen Begleitung von Change-Prozessen und Veränderungsvorschlägen braucht die Steuerwissenschaft Modelle zur Prognose. Und sie braucht Wissenschaftler, die solche Modelle erstellen können.

Veränderungsprozesse brauchen Vorhersagen, wenn wir nicht im dichten Nebel auf Sicht fahren wollen. Um ohne Unfall durch den Nebel zu kommen, schreiten die Veränderungen aber viel zu rasant voran.

Daher: Schaltet die Modellscheinwerfer in der Steuerwissenschaft wieder an!

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