Streitgespräch

„Der Steuerberatungsbranche fehlt der moralische Kompass“

Alle sollen ihren fairen Anteil an Steuern zahlen. Ein Satz, den wohl jeder sofort unterschreiben würde. Aber wann ist ein Anteil eigentlich fair? Und darf man hier überhaupt moralisch argumentieren? Christine Osterloh-Konrad, Professorin an der Universität Tübingen, und Gerhard Schick, Vorstand des Vereins Bürgerbewegung Finanzwende, sind sich in dieser Frage uneins. Ein Streitgespräch über die Kriminalisierung von Steuerpflichtigen, die Rolle des Staates und über Berater als vermeintliche Nestbeschmutzer.

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JUVE Steuermarkt: Das deutsche Steuersystem gilt als eines der kompliziertesten der Welt. Viele empfinden es gleichzeitig als unfair. Wie schneidet es aus Ihrer Sicht im internationalen Vergleich ab?
Prof. Dr. Christine Osterloh-Konrad
: Die Frage an sich ist nicht beantwortbar, das deutsche Steuersystem ist ähnlich komplex wie andere Steuersysteme – soweit ich diese denn überschauen kann. Es hat sicherlich Anteile, die ich als weniger fair empfinde, lässt aber auch genug Differenzierungen zu.

Christine Osterloh-Konrad

Dr. Gerhard Schick: Es gibt sicher vieles, was fair gelöst ist. Zwei Themen werte ich aber eindeutig als negativ und unfair. Zum einen die Kriminalität und ihre mangelnde Verfolgung. Schauen Sie sich Umsatzsteuerkarusselle an, die Milliarden kosten, oder Cum-Ex. Unser Staat ist für die Verfolgung solcher Delikte sehr schlecht aufgestellt. Das macht es für die Ehrlichen ungerecht. Das zweite Defizit sehe ich in der Vermögensverteilung. Wenn es um die Einkommensverteilung geht, steht Deutschland – wenn Sie den Gini-Koeffizienten als Maß heranziehen – in der Tat ganz gut da. Bei der Verteilung von Vermögen sieht das völlig anders aus. Und das hat mit Lücken im Steuersystem zu tun. Die Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben, die Erbschaftsteuer hat gerade bei den größten Vermögen eine Lücke. Hier müssen wir nachkorrigieren, wenn wir uns ein faires Steuersystem zum Ziel setzen. Besonders krass ist die politische Untätigkeit bei beiden Aspekten.

Gerhard Schick

Osterloh-Konrad: Ich würde an dieser Stelle kurz einhaken und ergänzen. Zunächst einmal glaube ich, dass man ein absolut faires Steuersystem nicht hinbekommt. Das liegt schon an einem Zielkonflikt, den man nicht auflösen kann: Auf der einen Seite haben wir die Einzelfallgerechtigkeit, auf der anderen Seite die Standardisierung, die man auch zugunsten der Steuerpflichtigen braucht. Denn wenn man versucht, die Einzelfallgerechtigkeit immer umzusetzen, wird es irgendwann so komplex, dass am Ende nur noch gut Beratene durchsteigen – und dann wird es wieder unfair. Im internationalen Vergleich schlagen wir uns aber gar nicht so schlecht. Auch ich sehe es allerdings als Problem an, dass die Schere bei Vermögen immer weiter auseinanderdriftet. Die Vermögensteuer kann aber keine Lösung sein. Diese ist auch international auf dem Rückzug und hat sich nicht als Erfolgsmodell erwiesen. Trotzdem sollte man hier gegensteuern. Was mich zudem an dem Kritikpunkt mit der Wirtschaftskriminalität stört: Nach meiner Wahrnehmung hat sich dies schon sehr positiv entwickelt – also in Ihrem Sinne, Herr Schick. Vor allem in den vergangenen zehn bis 15 Jahren hat sich die Strafverfolgung hier doch deutlich verschärft.

Ähnliches höre auch ich immer wieder.
Schick: Die Zahl der Steuerfahnder ist nach wie vor gedeckelt auf zu geringem Niveau. Warum? Die von Christian Lindner geplante neue Bundesbehörde gegen Finanzkriminalität ändert nichts an der Tatsache, dass wir nach wie vor keine Ermittlungskompetenz auf Bundesebene haben, um großer und internationaler Steuervergehen Herr zu werden. Für andere kriminelle Fälle haben wir ein Bundeskriminalamt. Und bei so großen Themen wie Cum-Ex ist auf einmal dann eine Staatsanwaltschaft vorne mit dabei…

…und vor allem die Kölner Staatsanwaltschaft gilt in dieser Hinsicht doch als äußerst umtriebig.
Schick: Aber doch letztlich viel zu schwach aufgestellt. Staatsanwältin Anne Brorhilker will dabei einfach das umsetzen, was der Bundesgerichtshof schon lange sagt: Ab einer bestimmten Höhe kann man nicht einfach mal eben einen Deal machen. Ihre Hausleitung hatte offenbar die Auffassung, wir haben schon immer Deals gemacht. Dann brauchst du auch nicht mehr Leute, um diese 1.500 Cum-Ex-Fälle zu bearbeiten. Das zeigt eine Kultur in der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität, die unhaltbar ist. Auf der einen Seite haben wir Staatsanwälte, die die Vielzahl der Verfahren kaum bewältigen können, auf der anderen Seite existiert eine ganze Armada an Staranwälten, die gute Deals für ihre Mandanten rausholen – eine absolute Schieflage.

Als Fachjournalist spreche ich mit ebenjenen Staranwälten und jeder Menge weiterer Berater. Und ein guter Teil würde Ihnen beiden Recht geben. Auf der einen Seite wird viel mehr kriminalisiert als früher, auf der anderen Seite trifft es eben dann auch häufig den ‚ehrlichen‘ Unternehmer – und damit die falschen.
Schick:
Dass eine Betriebsprüfung sich lieber in Detailfragen bei der Prüfung eines Mittelständlers engagiert, statt sich mit komplexen Fragen mit Auslandsachverhalt etc. auseinanderzusetzen, ist ein Fall, den ich häufig von Unternehmern höre – ein echtes Ärgernis. Der Grund sind zu geringe Ressourcen und Kompetenzen für die großen Fälle. Vor allem deshalb will ich ja auch die Bundeszuständigkeiten stärken. Ein Staat darf keine Angst haben, sich mit internationalen Banden anzulegen.
Osterloh-Konrad: Ich glaube, wir haben Defizite an beiden Fronten. Das Vertrauensverhältnis zwischen Verwaltung und Steuerpflichtigen ist nicht gerade besser geworden in den vergangenen Jahren, und das liegt nicht nur an den Steuerpflichtigen. Es werden mitunter Sachverhalte unter die Lupe genommen und kriminalisiert, bei denen man sich schon fragt, ob die Behörden hier nicht zu schnell mit dem Strafrecht drohen. Umgekehrt gebe ich Herrn Schick Recht: Das Personalproblem und die institutionellen Zuständigkeiten sind schwierig. Es gibt Fälle, die dauerhaft unter dem Radar laufen. Man kann jedoch nicht sagen, dass systematisch Steuerdelikte unterbelichtet werden – es gibt aber institutionelle Defizite.

Frau Osterloh-Konrad, Sie sagen, dass NGOs, einzelne Staaten und überstaatliche Institutionen schon lange beklagen, dass multinationale Unternehmen nicht ihren fairen Anteil zum Steueraufkommen beitragen. Gleichzeitig kritisieren Sie, dass für diese Institutionen und Staaten dahinter eine „untadelige unternehmerische Steuermoral“ steht. Wie meinen Sie das?
Osterloh-Konrad:
Ich meine an dieser Stelle vor allem, dass es keine übergeordnete Instanz gibt, die sagen kann: Das und nur so ist es fair! Wir schauen uns international agierende Unternehmen und deren effektiven Steuersatz an und können uns ansehen, wie das Steuersubstrat zwischen den Staaten verteilt ist. Und dann kann man – aus rechtspolitischer Sicht – sagen: Das erscheint mir problematisch. Aber es gibt keine höhere moralische Instanz jenseits des geschriebenen Rechts, die darüber entscheidet, was zu wenig beziehungsweise zu niedrig ist. Basis der Besteuerung muss immer das Recht sein – konkret: das geschriebene Recht. Die Moral selbst hat an dieser Stelle nichts zu suchen; sie findet eher auf einer individuellen Ebene statt. Ich finde Moral in mir selbst, kann diese aber nicht für allgemeingültig erklären. Für allgemeingültige Regeln im Steuerrecht haben wir Gesetze. Ich kenne eine ganze Reihe von Beratern, die in Bezug auf Cum-Ex immer gesagt haben: Wir wissen, dass es das gibt. Aber das fassen wir nicht an, weil klar ist, dass es das an sich nicht geben darf. Sie haben auf ihren eigenen moralischen Kompass gehört.
Schick: Ich sehe das anders: Ich würde mir wünschen, dass es unter den vielen sehr gut bezahlten Beratern aus dem Steuerrecht nicht nur zwei, sondern auch mal zehn oder mehr gibt, die auf kriminelle Machenschaften hinweisen. Und dass Vorschläge aus Steuerberatung und Steuerwissenschaft nicht eine so große Einseitigkeit hätten und denen helfen, die das meiste Geld haben, sondern dass sie die gesamte Gesellschaft im Blick haben. Interessant ist doch, dass das ehrenamtliche gesellschaftliche Engagement unter Bankern größer ist als unter Steuerberatern und Steuerjuristen. Mein Eindruck: Der Steuerberatungsbranche fehlt weitgehend der moralische Kompass.

Wie begründen Sie das?
Schick: Ein Beispiel: Es gab, bis auf vielleicht eine Ausnahme, bisher keine echte Branchendiskussion darüber, wie es sein kann, dass so viele Menschen in Cum-Ex involviert waren, aber praktisch niemand die Justiz darauf aufmerksam gemacht hat. Ich frage mich echt: Wo ist eigentlich die Ethik dieser Branche?

Hat die Steuerbranche ein Problem, Frau Osterloh-Konrad?
Osterloh-Konrad:
Meiner Kenntnis zufolge hat auch der Informationsfluss in Bezug auf Cum-Ex innerhalb der Finanzverwaltung – einschließlich Bund-Länder-Grenzen – nicht gut funktioniert. Dass da etwas bei Banken und einigen Kanzleien – man sollte tunlichst vermeiden zu sagen DIE Kanzleien, weil es eben nicht so viele waren – in die falsche Richtung lief: Das wusste man an manchen Stellen innerhalb der Finanzverwaltung durchaus.
Schick: Da gebe ich Ihnen Recht – und das wissen Sie wohl von mir. Das habe ich im Untersuchungsausschuss seinerzeit genau herausgearbeitet. Aber das beantwortet die Frage nach dem Problem in der Branche nicht. Ohne Whistleblower wäre die Cum-Ex-Geschichte doch wohl niemals aufgeflogen.
Osterloh-Konrad: Ich würde gerne zwei Dinge dazu sagen. Zum einen habe ich selbst jahrelang zur Steuerumgehung geforscht – sowohl ländervergleichend als auch historisch, und dabei Rechtsordnungen kennengelernt, in denen Berater wesentlich aggressiver agieren als hierzulande. Was die Integrität der Branche angeht, sind wir so schlecht nicht aufgestellt. Ich will nicht sagen, hierzulande sei alles Gold, was glänzt. Aber es geht noch deutlich schlimmer. Zum anderen, um auf das Thema Whistleblower zu sprechen zu kommen: Ob ich eine Gestaltung selbst vermarkte oder ob ich jemanden bei den Behörden anschwärze, der das tut, sind zweierlei Dinge. Anschwärzen ist aus meiner Sicht durchaus nicht immer positiv zu bewerten. Es gibt ja den schönen Spruch: Der größte Schuft im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant – den würde ich persönlich unterschreiben. Menschen, die andere bei den Behörden anzeigen, können damit richtig liegen. Aber ihr Verhalten ist durchaus ambivalent. Ich würde als Indikator für den ‚moralischen Kompass‘ der Beraterschaft also weniger den fehlenden Aufschrei aus der Branche als den Umstand werten, dass doch die meisten Berater nicht mitgemacht haben.
Schick: Es sind doch nahezu alle Institute involviert gewesen, und wenn Sie Cum-Cum dazunehmen, sind es gleich noch mehr.
Osterloh-Konrad: Das würde ich an dieser Stelle ungerne dazunehmen und mit Cum-Ex vermischen.
Schick: Ich habe an vielen steuerrechtlichen Konferenzen teilgenommen und fast nirgends wurde das Thema kritisch beleuchtet. Eine öffentlich wahrnehmbare kritische Auseinandersetzung mit Cum-Ex gab es in der Branche nicht. Das ist ja nicht nur eine strafrechtliche Aufgabe. Und was das Denunziantentum angeht: Viele Leute würden einen Fahrer, der das Auto ihres Nachbarn rammt und abhaut, doch bei der Polizei melden. Zu Recht. Wenn aber ein Teil der Branche Millionen an Steuergeldern stiehlt, gilt vielen eine gezielte Information der Behörden als Nestbeschmutzung – für mich ein unhaltbares Verständnis von Moral.
Osterloh-Konrad: Was die Aufarbeitung angeht, gebe ich Ihnen recht. Um einen anderen Spruch zu bemühen: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Da gibt es in der Fachwelt teilweise eine schwierige Dynamik. Aber einige sprechen ja durchaus aus, was Sache ist: Mein eigener akademischer Lehrer Prof. Dr. Wolfgang Schön (Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen; Anm. d. Red.), der das Bundeszentralamt für Steuern in der Cum-Ex-Causa vertreten hat, sprach diesbezüglich von einer ‚systematischen Ausplünderung‘ des Fiskus – und da gebe ich ihm vollkommen recht. Da sind wir, Herr Schick, trotz aller Differenzen nah beieinander.

Offenbar ist das Recht doch auch defizitär, wenn es Umgehungen der Steuergesetze ermöglicht. Braucht es den moralischen Zeigefinger also doch immer mal wieder?
Schick:
Ich würde da gar nicht mal von einer moralischen, sondern eher von einer volkswirtschaftlichen Warte aus argumentieren. Wenn Unternehmen Standortleistungen nutzen, ohne dafür zu bezahlen, ist das langfristig gesehen nichts, was funktionieren kann. Wenn ich im Hotel Adlon übernachte, aber nicht das Hotel, sondern die Jugendherberge um die Ecke bezahle, dann geht das Hotel Adlon auf Dauer bankrott. Wenn Sie eine Betriebsstätte in Malta oder Irland gründen und dort ihre Lizenzen verbuchen und es über Verrechnungspreis-Gestaltungen schaffen, dass die Erträge dort anfallen, haben wir das gleiche Problem. Das ist ein schmarotzerhaftes Verhalten und würden alle so agieren wie etwa Starbucks, wäre der deutsche Staat pleite. Deswegen finde ich zum Beispiel auch die globale Mindeststeuer aus volkswirtschaftlichen Gründen absolut sinnvoll. Steuerpolitik und Steuerverwaltung müssen dafür sorgen, dass für Standortdienstleistungen gezahlt wird. Natürlich kann man moralisch argumentieren und sagen: Das ist unfair. Aber auch wirtschaftspolitisch ist dies keine nachhaltige Situation, denn Unternehmen brauchen ja gute Standortleistungen. Deswegen habe ich mich diesbezüglich immer für bessere Regeln eingesetzt.
Osterloh-Konrad: Und Sie sprechen zu Recht von besseren Regeln. Das zeigt, wo das Gros der Verantwortung liegt. Natürlich darf und sollte man auf individueller Ebene von den Marktteilnehmern ein integres Verhalten erwarten – das sei ungenommen. Die Regeln ändern können aber nur die Staaten. Ich finde es hoch problematisch, diese Verantwortung auf die Unternehmen oder die Berater abzuwälzen.

Können Sie das erläutern?
Osterloh-Konrad: Das führt im Umkehrschluss dazu, dass die Compliance-Verpflichtungen bis ins Unendliche hochgeschraubt werden, sodass diese mit der Regelungsflut gar nicht mehr hinterherkommen. Das sind unfassbare Kosten, die da inzwischen entstehen. Zudem droht aus dem Blick zu geraten, dass eine internationale Abstimmung von Regelungen zwischen den Staaten das richtige Instrument ist. Bei Pillar II zum Beispiel setzt man ja zumindest am richtigen Ende an.
Schick: Da muss ich Ihnen widersprechen. Mir stellt sich die Frage: Wieso ist unsere Steuergesetzgebung so löchrig? Wieso schaffen wir es nicht, ein Steuerrecht innerhalb der Europäischen Union durchzusetzen, das die Einnahmen beziehungsweise Ausgaben einigermaßen fair den einzelnen Staaten zuordnet? Die Antwort: Das hat viel mit der Einflussnahme von Unternehmen auf Gesetzgebungsprozesse zu tun. Die Zweiteilung, dass wir auf der einen Seite die Staaten haben, die die Regeln setzen, und auf der anderen Seite die Unternehmen, welche sich eben innerhalb dieser bewegen, habe ich als Volkswirt auch gelernt. Nur hat sie – das kann ich aus meiner Erfahrung als Politiker sagen – mit der Realität nicht viel zu tun. Die Unternehmen, die genannte Regelungen nutzen, sind in der Regel die gleichen, die sich in der Lobbyarbeit vehement dagegen wehren, diese zu verändern. Und deswegen muss ich auch die Unternehmen an dieser Stelle adressieren.
Osterloh-Konrad: An dieser Stelle muss ich wiederum Ihnen widersprechen. Zum Teil haben Sie zwar Recht; die Unternehmen versuchen natürlich Einfluss auf die Steuerpolitik zu nehmen. Aber: Wenn wir zum Beispiel über die europäische Vereinheitlichung von Steuersystemen reden, dann spielt das Beharren der Mitgliedstaaten auf Autonomie und Souveränität eine größere Rolle als der Einfluss von Unternehmen. Die Vorstellung, man könne zu einem einheitlichen Steuersystem kommen, sobald sich die Konzerne völlig raushalten, ist unrealistisch.

Unternehmen stehen immer wieder wegen sogenannter aggressiver Steuergestaltungen in der Kritik. Gibt es eigentlich eine ‚gute Steuergestaltung‘?
Schick:
Es gibt hier sicher keine saubere Trennungslinie. Aber es ist immer auch so, dass Unternehmen nicht alle Regeln bis zum Exzess ausüben müssen. Sie müssen Ihr Unternehmen nicht so aufstellen, dass sie in Deutschland mit einem Nullgewinn rauskommen. Und da fragt man sich als Bürger, der brav seine Steuern zahlt, ob das fair sein kann. Unternehmen könnten doch auch anders agieren. Viele Unternehmen machen groß Werbung mit Themen wie Corporate Social Responsability, zahlen dann aber keine oder nur sehr wenig Steuern. Das ist dann in der Tat eine Doppelmoral. Diesen Diskurs muss es doch geben.
Osterloh-Konrad: Und den gibt es auch. Ob man diesen Diskurs öffentlich mit der moralischen Keule führen muss, möchte ich allerdings in Frage stellen. Das Steuerrecht ist eine so komplexe Materie, dass ich es nicht förderlich finde, die Bewertung konkreter Einzelfälle der öffentlichen Meinung zu überlassen. Das führt dazu, dass man einzelne Sündenböcke herauspickt und so eine sehr negative Stimmung erzeugt – das passt nicht zu den Anforderungen dieses Rechtsgebiets. In einem Punkt gebe ich Ihnen allerdings völlig Recht: Selbstverständlich muss nicht jeder Vorstand zugunsten seiner Aktionäre Spielräume im Steuerrecht ausnutzen. Es ist wichtig klarzustellen, dass kein Vorstand dieser Welt dazu verpflichtet ist – auch und gerade nicht den Shareholdern gegenüber –, eine maximal aggressive Steuerstrategie umzusetzen. Natürlich ist es legitim, dass Unternehmer gewisse Strukturen nutzen, um Steuern zu sparen, auch um im Wettbewerb zu bestehen. Aber aus moralischer Sicht – und ich habe ja nicht per se etwas gegen Steuermoral, ganz im Gegenteil – bin ich da bei Ihnen: Es muss nicht jede noch so kleine Möglichkeit zur Gestaltung genutzt werden.

Trotzdem finden Sie, Frau Osterloh-Konrad, es problematisch, wenn der Staat moralische Missbilligungen nutzt, um das Steuerrecht zu regulieren. Wieso tut er das überhaupt?
Osterloh-Konrad:
Das hängt stark mit der Globalisierung zusammen, mit einer Machtlosigkeit angesichts einer Wirtschaftswelt, die über die Grenzen der Nationalstaaten weit hinausgeht. Diese Entwicklung hat viel mit Steuerwettbewerb zu tun, bei dem man ja auch unterscheiden kann: Dass Staaten über die Steuersätze konkurrieren, ist nicht zu beanstanden, aber einige gezielt begünstigende Regelungen werden verständlicherweise als unfairer Steuerwettbewerb wahrgenommen. Dagegen kann man als einzelner Staat kaum etwas ausrichten. Und angesichts dieser Machtlosigkeit versucht der Staat eben, über die moralische Schiene zu gehen, wenn man eine harte rechtliche Regulierung, die funktioniert, nicht hinbekommt.

Also sind Staaten oder Staatengebilde wie die EU zahnlose Tiger? Damit geben Sie Herr Schick doch recht, wenn er den zu großen Einfluss der Unternehmen auf die Steuergesetzgebung kritisiert.
Osterloh-Konrad:
Das ist mir zu pauschal. Es ist nicht einfach, aber man hat ja in den vergangenen Jahren unglaublich viel erreicht: BEPS (kurz für: Base Erosion and Profit Shifting; Anm. d. Red.) zum Beispiel. Das berichten mir auch die Berater. Diese Regelungen haben den Spielraum für Steuergestaltungen schon deutlich reduziert. Die Koordination zwischen den Staaten ist allerdings schwierig: Ein Staat schert aus, macht es komplett anders und zieht dann wiederum Unternehmen mit günstigen steuerlichen Bedingungen an. Was allerdings nicht nur schwierig, sondern schlicht unmöglich ist, ist die Schaffung eines Steuersystems, das keine Steuerumgehungen mehr zulässt. Aber man kann daran arbeiten, dass die Spielräume national wie international kleiner werden.
Schick: Sie haben da gerade etwas ganz Interessantes gesagt, und zwar: was ‚man‘ in den vergangenen Jahren erreicht hat. Ich glaube, diese Ziele haben wir vor allem den bereits erwähnten Whistleblowern zu verdanken. Ohne Panama Papers, ohne Lux Leaks, ohne Swiss Leaks wäre so manche Veränderung politisch nicht möglich gewesen. Und das zeigt: Die öffentliche Debatte ist wichtig. In dieser wurde auch unter anderem skandalisiert, dass ein Premierminister als Krimineller aufflog. Oder eben auch Menschen aus Kultur und Sport auf irgendwelchen Listen auftauchten. Ich glaube, diese Debatte hat mehr erreicht als so manche fachpolitische Diskussion vorher und nachher. Und erst als die Debatte ein Gesicht bekommen hat, kam es zu den Veränderungen. An dieser Stelle möchte ich auch die maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia nennen, die viel in dieser Sache bewirkt hat und eben deswegen ermordet wurde.

Der europäische Gesetzgeber ist sicher auch aufgrund der öffentlichen Debatte in Bezug auf Steuergestaltungen tätig geworden. Stichwort: DAC6 – also die Meldepflicht für Steuergestaltungsmodelle. Viele Steuerberater wollen nun ihre Mandanten oder sich selbst aber nicht anschwärzen.
Osterloh-Konrad:
Gemeinsam mit zwei Kollegen -Caroline Heber und Tobias Beuchert – habe ich damals im Auftrag des Finanzministeriums ein Gutachten zu dem Thema verfasst und mich in diesem Rahmen sehr intensiv mit der Materie auseinandergesetzt. Im Prinzip halte ich das Instrument für sinnvoll. So ist der Staat informiert und auf dem Laufenden und kann dann eben auch entscheiden, ob er de lege ferenda etwas tun muss. Generell bin ich dafür, dass man im Steuerrecht möglichst große Transparenz walten lässt – allerdings in beide Richtungen. Ich halte auch nichts davon, dass der Staat keine verbindlichen Auskünfte in Fällen erteilt, die nach einer steuerlichen Motivation riechen.

Und wieso sollte der Gesetzgeber nicht selbst für das Schließen von Gesetzeslücken sorgen?
Osterloh-Konrad:
Ein gern vorgebrachtes Argument der Kritiker von DAC 6. Aber da sind wir wieder beim Kräftegleichgewicht. Dem Staat stehen viele sehr gut bezahlte Steuerrechtler gegenüber, die nichts anderes tun, als sich darüber Gedanken zu machen, wie man möglichst gut Steuern spart. Da kann ich nicht vom Gesetzgeber verlangen, dass er all dies von sich aus erahnt und in seiner Gesetzgebung vorwegnimmt. Wenn man die Meldepflichten aber implementiert, müssen die Informationen auch gut aufgearbeitet und die gewonnenen Erkenntnisse umgesetzt werden und bei Bedarf letztlich in Gesetze münden. Ansonsten bedeuten sie nur eine zusätzliche Belastung für alle Beteiligten.
Schick: Ich bin da ganz der Meinung von Frau Osterloh-Konrad. Eine transparente Arbeit auf beiden Seiten halte ich für sinnvoll.

Frau Osterloh-Konrad, Sie haben in einem Beitrag geschrieben, dass „die demokratische Mehrheitsbildung in einem geordneten Verfahren“ objektivere Sollenssätze hervorbringt als moralische Überzeugungen. Sie, Herr Schick, haben in einem Zeit-Interview vor gut anderthalb Jahren den „Lobbyismus in Justiz und Richterschaft“ kritisiert. Vor allem der Bundesfinanzhof habe schlechte Transparenzregeln in Bezug auf Nebeneinkünfte, die zu Interessenskonflikten führen könnten. Das klingt nicht gerade nach objektiven Maßstäben in Bezug auf das Steuerrecht.
Schick
: Ich will an dieser Stelle nur kurz einwenden, damit Sie es nicht zu stark generalisieren. Ich habe in unserer Publikation sehr darauf geachtet und das ist mir wichtig: Wir haben kein generelles Problem in der Richterschaft, aber leider doch in einigen Fällen: Vor allem beim Bundesfinanzhof gibt es sehr hohe Nebeneinkünfte und deswegen halte ich die derzeitigen Transparenzregeln für inadäquat. Sie fallen auch zum Beispiel hinter die Regelungen des Bundesverfassungsgerichtes zurück.
Osterloh-Konrad: Ich verstehe den Zusammenhang, finde ihn aber ein wenig konstruiert. Sie sind bei Ihrer Frage weit gesprungen. Ich glaube, auch hier sind Herr Schick und ich uns weitgehend einig, nämlich vor allem in dem Punkt, dass wir kein allgemeines Justizproblem wahrnehmen.

Nun muss ich kurz einhaken: Herr Schick sprach ja vom Bundesfinanzhof und wir sprechen hier explizit über das Steuerrecht. Sind die Sollenssätze noch gültig, wenn durch mangelnde Transparenz zu viel Einfluss entsteht?
Osterloh-Konrad:
Meine These in dem von Ihnen zitierten Aufsatz ist ja wie folgt: Anders als individuelle moralische Glaubenssätze haben rechtliche Regeln Verbindlichkeit für alle, und zwar nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen des demokratischen Prozesses, in dem sie entstanden sind. Ihre Frage geht nun dahin: Sind diese rechtlichen Regeln denn noch was wert, wenn es einige Richter gibt, die vielleicht durch massive Nebeneinkünfte beeinflusst sind? Hierzu kann ich nur sagen: Insgesamt nehme ich keine Verzerrung zugunsten des Steuerpflichtigen wahr. Dessen ungeachtet ist eine gewisse Transparenz wünschenswert. Auch da bin ich ganz der Meinung von Herrn Schick.
Schick: Wenn es so weitergeht, werden Sie noch Mitglied bei Finanzwende, Frau Osterloh-Konrad (lacht).

Auch in Bezug auf die Erbschaftsteuer scheinen Sie beide überraschend nah beieinander zu sein.
Osterloh-Konrad:
Eingangs hatten wir ja über die wachsende Vermögensungleichheit gesprochen. Wenn ich mir die Gesellschaft als weißes Blatt Papier vorstelle, dass ich bemalen darf, hätte ich in der Tat ein Faible für eine substanzielle Erbschaftsbesteuerung. Und nicht aus der Argumentation heraus, dass man den reichen Menschen etwas wegnehmen müsse, sondern schlicht wegen der Chancengleichheit. Klar müssen nicht alle gleichgestellt sein. Aber in einer Situation, in der sich auch gutverdienende Menschen in manchen Großstädten kein Haus mehr leisten können, wenn sie nicht geerbt haben, könnte man vielleicht durchaus ein wenig nivellieren. Rechtspolitisch finde ich eine Erbschaftsteuer also sinnvoll. Und ich möchte generell mal mit einem Vorurteil aufräumen: Das ist keineswegs eine sozialistische, sondern eine urliberale Position. Viele liberalen Denker des 18. und 19. Jahrhunderts hatten ein großes Faible für die Erbschaftsteuer – und argumentierten ebenfalls mit der Chancengleichheit.

Das sieht die FDP aber anders.
Osterloh-Konrad: Allerdings. Und die Chancen, eine substanzielle Erbschaftsbesteuerung zu realisieren, gehen gegen null, das ist mir klar. Denn die Erbschaftsteuer ist in der Gesellschaft sehr unbeliebt. Unabhängig davon gehören aber jedenfalls die vielen Ausnahmen, die wir haben, abgeschafft. Eine Steuer auf niedrigem Niveau, dann aber eben auch auf alles, halte ich sowohl für realisierbar als auch für wünschenswert. Der Story des untergehenden Familienunternehmens bei moderaten Sätzen schenke ich keinen Glauben. Sollte es wirklich zu Liquiditätsproblemen kommen, könnte man die Steuerschuld ja zum Beispiel stunden.
Schick: Chapeau! Für mich ist die Erbschaftsteuer das Paradebeispiel, mit dem Reiche es mit ihrem Lobbyismus wirklich übertrieben haben. Und wir haben – mittlerweile über Jahrzehnte – ein verfassungswidriges Erbschaftsteuerrecht. Als Demokrat irritiert mich das.  Die größte Steuersubvention in Deutschland geht an die allerreichsten Familien. Das ist absurd. 2016…

…im Zuge der Erbschaftsteuerreform…
Schick:
…war es manchen Politikern und Lobbyisten egal, ob diese verfassungskonform ist oder nicht. Das ist gemeinwohlschädlich. Die Verfassung ist eine Grenze, die Demokraten einhalten müssen, sonst kommen wir in eine gefährliche Schieflage. Finanzwende kämpft derzeit dafür, dass die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts eingehalten werden. Dass es dafür eine Bürgerbewegung braucht, sagt viel über die finanziellen Eliten unseres Landes aus. Es ging in der Debatte ja nur noch um die angeblich gefährdeten Arbeitsplätze und nicht mehr um die Erbschaftsteuer an sich. Ich beschäftige mich seit 18 Jahren mit dem Thema. Kein Unternehmen ist in der Zeit wegen der Erbschaftsteuer in Schieflage geraten. Aber genau das wurde immer behauptet. So kam außer der Verfassung auch noch die Wahrheit in dieser Diskussion unter die Räder.

Christine Osterloh-Konrad ist Professorin an der Universität Tübingen und hat dort den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Steuerrecht sowie Rechtsphilosophie inne. Der Lehrstuhl forscht und lehrt zum Bürgerlichen Recht, zum Unternehmens- und Steuerrecht sowie zu den rechtsphilosophischen, rechtstheoretischen und ökonomischen Grundlagen dieser Rechtsgebiete.

Gerhard Schick ist Vorstand des Vereins Bürgerbewegung Finanzwende. Der promovierte Volkswirt saß von 2005 bis 2018 für Die Grünen im Bundestag. Von 2007 bis 2017 war er finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Für die Arbeit bei Finanzwende hat Schick sein Bundestagsmandat Ende 2018 niedergelegt.

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