Wie lange die 25-jährige Irina (Name und Alter geändert; Anm. der Redaktion) im Keller mit Ihrer Familie in Charkiw ausharren musste, kann Klaus-Peter Kessler nicht mehr genau sagen. Der schwere Beschuss ihrer Heimatstadt in der Ostukraine hatte die Rödl-Mitarbeiterin kalt erwischt. „Ich weiß nicht, ob es vier oder fünf Tage waren“, sagt der 53-jährige Rödl-Partner. Kessler ist Leiter der ukrainischen Landesgesellschaft der Nürnberger Next-Six-Gesellschaft und vor allem froh, dass die entscheidende WhatsApp-Nachricht seiner letzten in Charkiw verbliebenen Mitarbeiterin endlich kam. Nach Tagen ohne Kontakt schrieb Irina endlich: „Wir sind im Zug.“
Charkiw ist mit 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine nach Kiew. Eine Stadt so groß wie München. Die ukrainische Hauptstadt ist mit knapp drei Millionen Einwohnern hingegen nur etwas kleiner als Berlin. In beiden Städten hat Rödl & Partner ein Büro. Bereits 2003 begannen die Nürnberger in der Ukraine mit dem Aufbau einer eigenen Landesgesellschaft. Fast von Anfang an mit dabei: Klaus-Peter Kessler. Seit mittlerweile 18 Jahren kümmert sich der Rechtsanwalt vor Ort um die Geschicke von Rödl. Dabei spricht Kessler selbst fließend Russisch und ein wenig Ukrainisch. Über die Jahre ist er mit dem osteuropäischen Land verwachsen, hat Familie dort und kann die Entwicklungen der letzten Wochen kaum fassen. Er berichtet davon, wie während eines Telefongesprächs mit der Schwiegermutter plötzlich die Sirenen angehen. Wenig später schlagen auch schon die ersten Geschosse ein in dem Dorf, in dem Kesslers Schwiegermutter lebt. Schwer vorstellbar, wie ihm in diesem Moment zu Mute gewesen sein muss. Zwischenzeitlich konnte die Schwiegermutter evakuiert werden und ist nun in Sicherheit. Allerdings haben nicht alle Menschen in der Ukraine so viel Glück: Allein in Charkiw, wo Rödls jüngster Standort liegt, sind in den ersten drei Wochen des Krieges nach Medienberichten über 500 Einwohner getötet worden.
Lieferung via LinkedIn
Währenddessen im 1.800 Kilometer entfernten Essen: Olga Broviy ist teilweise bezahlt freigestellt. Sie betreut ukrainische Kollegen und organisiert private Hilfslieferungen. Die 36-jährige Senior Managerin ist bei Ernst & Young (EY) normalerweise in Vollzeit im internationalen Steuerrecht tätig. Jetzt ist sie Hilfskoordinatorin und Krisenmentorin in Teilzeit. Vor allem über LinkedIn bahnt sie Kontakte an und knüpft Netzwerke. Ein erster von ihr koordinierter Hilfstransport hat die westukrainische Stadt Sambir bereits erreicht. Die 36.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Lwiw liegt knapp 40 Kilometer hinter der polnischen Grenze. Sambir ist einer von vielen Sammelpunkten für Menschen, die aus den weiter östlich gelegenen Kampfgebieten geflüchtet sind. In Sambir braucht man deshalb nahezu alles. Unter den Hilfsgütern finden sich daher Stromgeneratoren, Essen, Schlafsäcke und auch Hygieneartikel. Die medizinischen Hilfsgüter des Transports haben jedoch noch ein anderes Ziel: Sie sollen per 3,5-Tonner in das 630 km entfernte Kiew gebracht werden, bevor sich der russische Belagerungsring um die Millionenstadt schließt. Wie lange der Transport, den Broviy und ihre Kollegen organisiert haben, dafür brauchen wird, weiß niemand.
Während sich bei EY-Beraterin Broviy der Fokus des Alltags nur teilweise verschoben hat, wurde das Leben der Mitarbeitenden von Rödl in Charkiw und Kiew vollkommen auf den Kopf gestellt. Bis vor wenigen Wochen hatten sie ein geordnetes Leben und einen Berufsalltag mit klarem Fokus: nämlich den klassischen MDP-Mix um Rechts- und Steuerberatung sowie Wirtschaftsprüfung. Ungefähr die Hälfte der 65 Mitarbeiter sind im Bereich Steuern und Buchhaltung tätig. Bis vor Kurzem wurden Investoren betreut, Deals begleitet und viel mit den anderen europäischen Kollegen zusammengearbeitet. Beispielsweise aus Deutschland. Aber auch aus Dänemark, wo ein Unternehmen, das in der Ukraine mit Hilfe von Rödl umfangreich investierte, seinen Hauptsitzt hat. Nun sind alle Mitarbeiter auf der Flucht. Nach Deutschland, nach Polen, in die Westukraine. Auf der Suche nach Safe Houses und Safe Points, die nicht bombardiert, beschossen oder belagert werden.
Safe Houses und drei Millionen Flüchtlinge
Von dem Begriff Safe House hörte Rödl-Partner Kessler vor zwei Wochen zum ersten Mal. Gelernt hat er ihn von den Angestellten der Frankfurter Sicherheitsfirma, die seine Mitarbeiter aus Kiew und Charkiw via GPS-Tracking und Telefon aus dem Krisengebiet gelotst und geleitet haben. Die Sicherheitsfirma ist eine Empfehlung eines ukrainischen Mandanten, der seine eigenen Mitarbeiter über die gleiche Firma evakuieren ließ. Eine Empfehlung, die sich gelohnt hat. Denn alle Mitarbeiter von Kessler sind unversehrt. Und dennoch: Auch eine Woche nach der ersten Evakuierungswelle seines Teams aus den Kampfgebieten wird Kesslers Stimme dünn und faserig, wenn er von Safe Houses spricht. Am liebsten, so scheint es zumindest, würde der Rödl-Partner diesen Begriff gerne wieder aus seinem Vokabular streichen.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) sind seit Beginn des Kriegs innerhalb von nur drei Wochen rund drei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Allein in den ersten zehn Tagen des Konfliktes seien es mehr als 1,5 Millionen Menschen gewesen. Der größte Teil davon floh nach Polen. Dort befinden sich Stand Mitte März rund 1,8 Millionen geflohene Ukrainer. Das UNHCR schätzt, dass bei einem fortdauernden Konflikt innerhalb der ersten sechs Monate noch mindestens eine weitere Million Menschen das Land verlassen wird. Dies ist damit die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Ukraine hatte vor dem Krieg rund 40 Millionen Einwohner. Damit sind bereits 7,5 Prozent der Bevölkerung geflohen.
Dabei sah es für die Menschen vor Ort vor nicht allzu langer Zeit noch sehr gut aus: Die Wirtschaft prosperierte, der große Einbruch während der Krimkrise in den Jahren 2014/2015 schien überwunden.
Das Land wurde zunehmend für ausländische Unternehmen als Standort interessant. Das Investitionsklima war günstig. Deshalb entschloss sich 2018 auch BDO Deutschland vor Ort zu investieren. Die Hamburger bauten ein eigenes Service Center (BDO Centers) in Kiew auf – neben der unabhängigen ukrainischen Landesgesellschaft. Viele Beratungsgesellschaften haben solche Service Center mittlerweile im Ausland – vor allem für verschiedene firmeninterne Dienstleistungen, aber auch für Studien oder Reports, die an Mandanten gehen. EY zum Beispiel betreibt ein Service Center in Polen. BDO entschied sich für die Ukraine. Als 100-prozentige Tochtergesellschaft von BDO Deutschland lieferte BDO Centers zunächst nur für die deutschen Kollegen Unterstützung in Layout, Design, Research und IT-Support. Später auch für andere Landesgesellschaften. Erst im vergangenen Jahr wurde die Servicegesellschaft um den Bereich Marketing & Sales erweitert und auf aktuell 130 Mitarbeiter aufgestockt. Bis 2023 sollte die Gesellschaft auf 150 Mitarbeiter wachsen. Das interdisziplinäre Beraterteam besteht vor allem aus Wirtschafts-, Natur-, Geisteswissenschaftlern und Grafikdesignern. Die meisten von ihnen sind jetzt auf der Flucht.
Flucht unter chaotischen Umständen
Bei Rödl ist mittlerweile der Hälfte der 65 Mitarbeiter, die Kessler unter sich hat, und deren Familienangehörigen die Flucht in die EU geglückt. Teilweise unter chaotischen Umständen. An Busse war kein Herankommen. Also wurden Fahrgemeinschaften mit Privatautos gebildet. Rund ein Dutzend solcher Notgemeinschaften haben Kessler und sein Team mittels WhatsApp-Gruppen koordiniert. Ebenfalls mit Unterstützung der Frankfurter Sicherheitsfirma. Nahezu alle Wege nach Westen waren überfüllt und verstopft. „Die Sicherheitsfirma hat sich in regelmäßigen Abständen telefonisch bei den Fahrgemeinschaften gemeldet“, so Kessler. Mit neuen Updates zu den besten Routen und Wegzeiten, aber eben vor allem auch zur psychologischen Unterstützung.
Auch für die BDO Centers Mitarbeiter zog sich die Flucht in die Länge: „Über 40 Stunden hat der Weg von Kiew zur polnischen Grenze gedauert“, berichtet Andrea Bruckner, Mitglied des Vorstand der BDO Deutschland von der Evakuierung der BDO Centers Mitarbeiter aus Kiew. Für eine Fahrtstrecke, die normalerweise weniger als sieben Stunden in Anspruch nimmt. Und das, obwohl man sich schon frühzeitig um Busse bemüht hatte. Schon Tage vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine hatte der ukrainische Geschäftsführer des BDO Service Centers einen Fluchtplan ausgearbeitet, um seine Mitarbeiter so weit wie möglich von potenziellen Kampfhandlungen wegbringen zu können. Der Plan sah vor, die Angestellten in Bussen nach Lwiw in der Nähe der polnischen Grenze zu bringen. „Wir waren aber nicht von einem Angriff auf das ganze Land ausgegangen“, sagt Bruckner.
Rund 80 Personen hat BDO bisher aus der Ukraine nach Deutschland evakuieren können. Vor allem Mitarbeiterinnen mit ihren Kindern und Familien. Dafür hat die Next-Six-Gesellschaft in der Nähe von Düsseldorf extra ein Hotel angemietet. Die Familien sollen sich dort gegenseitig Halt geben. Selbst ein kleines Büro wurde eingerichtet. Falls jemand arbeiten und sich so ein kleines Stück Normalität schaffen möchte. Ein Zwang dazu besteht allerdings nicht. Mit den Helioskliniken habe man sich um medizinische Versorgung und Corona-Impfungen gekümmert, berichtet Bruckner. Auch psychologische Hilfe werde bereitgestellt. Weitere Mitarbeiter und ihre Familien befinden sich in Polen und in der Westukraine.
Allerdings sind nicht alle der 130 Mitarbeiter der BDO Centers in Sicherheit: „20 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind geblieben, um Kiew zu verteidigen und sich für ihr Land einzusetzen“, sagt Bruckner. Männer, die eingezogen wurden. Aber auch Reservistinnen der ukrainischen Armee. IT-Spezialisten, Marketing- und Grafikexperten, die nun im Krieg kämpfen. „Wir fürchten jeden Tag um diese Kollegen und Kolleginnen.“
Auch zwei Mitarbeiterinnen von Rödl-Partner Kessler sind noch nicht in Sicherheit. Sie sitzen immer noch in der Gegend um Irpin nahe Kiew fest. Für sie gab es bislang keine Feuerpause. In dem Gebiet nordwestlich von Kiew toben seit Tagen besonders erbitterte Kämpfe. Die ukrainischen Verteidiger leisten offenbar heftigen Widerstand. Wie die Wochenzeitschrift ‚Die Zeit‘ schreibt, wirft der Kreml der ukrainischen Armee „Geiselnahmen und die Nutzung von Zivilisten als Schutzschilde“ vor. Vor wenigen Tagen wird der 50-jährige amerikanische Videojournalist Brent Renaud in Irpin getötet. Das US-Magazin ‚Time ‘ hatte ihn in die Region entsandt, um einen Film über Flüchtlinge zu drehen.
„Da gab es Tränen und Dankbarkeit, dass sie nicht alleine sind“
Während die einen noch fliehen und die anderen schon kämpfen, beginnt für die ersten bereits wieder so etwas wie ein geregelter Alltag: EY hat für seine ukrainischen Mitarbeiter im polnischen Lodz ein provisorisches Zentrum eingerichtet.
Rund 100 der 482 ukrainischen EY-Mitarbeiter werden aktuell von einem 25-köpfigen Ukrainisch und Russisch sprechenden Team aus Deutschland heraus betreut. Eine von ihnen ist Olga Broviy. Das Team wurde nicht von der Geschäftsleitung bestimmt. Es hat sich gefunden. Über LinkedIn und das EY-Netzwerk haben sich Mitarbeiter zusammengeschlossen, die helfen wollen. Sie beraten nun ihre ukrainischen Kollegen in einem Buddy-Programm. „Über das Fachliche haben wir zunächst gar nicht gesprochen“, sagt die 36-jährige Broviy. Die ukrainischen Kollegen und Kolleginnen seien erstmal überwältigt gewesen, dass jemand in ihrer Muttersprache mit ihnen spricht. „Da gab es Tränen und Dankbarkeit, dass sie nicht alleine sind.“
Für den Steuerchef von Ernst & Young Deutschland, Alexander Reiter, ist das „eine großartige Energie“ mit der die 25 EY-Mitarbeiter ans Werk gehen. Die Big-Four-Gesellschaft selbst gebe dabei die Unterstützung, die notwendig sei. Ein konkretes Limit oder feste Budgetgrenzen gebe es nicht. Was gebraucht werde, würde bereitgestellt, so Reiter. So können die ukrainischen Mitarbeiter etwa von Polen aus weiterarbeiten, aber auch mit deutschen Arbeitsverträgen nach Deutschland kommen und in die deutsche Struktur von EY überwechseln. Ein Angebot, das das nicht alle sofort annehmen möchten. „Moment, ist der befristet?“, sagt Broviy, sei die erste Rückfrage der ukrainischen Mitarbeiter im Buddy-Programm in Bezug auf den deutschen Arbeitsvertrag gewesen. Denn die ukrainischen Mitarbeiter wollten zurück in die Ukraine. So schnell wie es wieder geht. Die ukrainische Landesgesellschaft von EY ist derzeit also eine Organisation im Exil. Und jeder hofft, dass diese Situation so bald wie möglich endet.Die Arbeit aus dem Exil heraus ist auch für die Rödl-Einheit unter Kessler gelebte Praxis geworden: Das Team arbeitet auch von Deutschland und Polen aus weiter für ukrainische Mandaten. Genauso wie die Kollegen, die noch in der Ukraine sind. Der Buchhaltungsserver steht in Frankfurt. „Solange wir Dokumente von Mandanten erhalten, buchen wir“, sagt Kessler. Aber nicht nur die Steuer- und Buchhaltungsabteilung arbeitet weiter. Auch die Rechtsabteilung der ukrainischen Landesgesellschaft von Rödl beantwortet nach wie vor Mandantenanfragen. So gebe es arbeitsrechtliche Gutachten, die kurzfristig erstellt werden sollten, sagt Kessler. Zentrales Thema für die ukrainischen Arbeitsrechtler von Rödl: Welche Rechte und Pflichten ergeben sich für ukrainische Arbeitgeber durch die Auswirkungen von Krieg und Einberufung.