Derzeit müssen die Mitgliedstaaten Neuerungen in der Steuerpolitik einstimmig beschließen – und erzielen dabei oft keinen Konsens. „Unsere zunehmend globalisierten Volkswirtschaften sind auf moderne und ehrgeizige Steuersysteme angewiesen“, erklärte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. „Ich bin weiterhin nachdrücklich dafür, bei künftigen Fragen der Besteuerung in unserer Union zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen und dem Europäischen Parlament eine stärkere Stimme zu geben.“
Sein Wunsch: Die gemeinschaftliche Steuerpolitik soll schrittweise zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit übergehen und damit die Blockadehaltung einzelner Mitgliedstaaten überwinden. Das Recht der EU-Länder, nach eigenem Ermessen Einkommensteuer- oder Körperschaftsteuersätze festzulegen, soll dabei nicht angetastet werden.
Viele Lücken, keine Lösung
Die bisherige Uneinigkeit in Steuerfragen kommt viele EU-Länder teuer zu stehen, weil Bürger Steuerschlupflöcher nutzen und Konzerne die unterschiedlichen Steuersysteme geschickt gegeneinander ausspielen. Allein durch Mehrwertsteuer-Betrug entgehen den Ländern Einnahmen von 50 Milliarden Euro pro Jahr. Die Einführung einer Finanztransaktionsteuer könnte laut EU-Angaben jährlich 57 Milliarden Euro in die Staatskassen spülen, die umstrittene Digitalsteuer rund fünf Milliarden Euro. Die sogenannte „Gemeinsame Konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage“ (GKKB) würde die Regeln, nach denen Unternehmen ihren zu versteuernden Gewinn berechnen, europaweit vereinheitlicht – und damit Schlupflöcher, wie etwa die bevorzugte Behandlung von Patent- und Lizenzeinnahmen in einigen EU-Ländern, schließen.
Das Problem an dem aktuellen Vorstoß: Die Mitgliedsländer müssen den Wechsel zum Mehrheitsbeschluss billigen, und zwar einstimmig. Das jedoch erscheint in der aktuellen Gemengelage in der europäischen Steuerpolitik mehr als unwahrscheinlich. Insbesondere Niedrigsteuerländer wie Irland, Luxemburg oder Malta dürften kaum darauf eingehen. Auch Deutschland hatte in der Vergangenheit sein Veto in Steuerfragen genutzt.
„Politisch anachronistisch, rechtlich problematisch“
Während in den 1950er Jahren die Einstimmigkeit im Steuerbereich mit sechs Mitgliedstaaten noch sinnvoll gewesen sei, „so ist dies heute nicht mehr der Fall“, kommentiert Pierre Moscovici, Kommissar für Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten, Steuern und Zoll den aktuellen Vorstoß. „Die Einstimmigkeitsregel im Steuerbereich erscheint zunehmend als politisch anachronistisch, rechtlich problematisch und wirtschaftlich kontraproduktiv.“ Er sei sich vollkommen darüber im Klaren, wie heikel dieses Thema sei, „aber deswegen dürfen wir die Diskussion nicht tabuisieren“, so Moscovici.
Deutschland dürfte der Forderung grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber stehen, wird doch in der deutsch-französischen Erklärung von Meseberg explizit die Abkehr von der Einstimmigkeit in der Steuerpolitik gefordert. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass Berlin selbst in manchen Fragen zu den Bremsern gehört, etwa wenn es um die Digitalsteuer geht.
Alternativ könnte die EU auch nach Paragraf 116 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU vorgehen, um das Mehrheitsprinzip in Steuerfragen durchzusetzen. Dazu müsste die Kommission feststellen, dass bestimmte Steuergesetze den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt verzerren. Allerdings wird dieses Vorgehen in der EU-Kommission wohl als rechtlich unsicher betrachtet und nur in Einzelfällen in Erwägung gezogen.
Sollte sich die EU wider Erwarten mit ihrem Vorschlag durchsetzen, will sie als erstes die Modernisierung bereits harmonisierter EU-Vorschriften, etwa im Bereich des Mehrwertsteuer- oder Verbrauchsteuerrechts, voranbringen und dann die GKKB sowie die Digitalsteuer in Angriff nehmen. „Beide Maßnahmen müssten dringend umgesetzt werden, um eine faire und wettbewerbsfähige Besteuerung in der EU zu garantieren. So kommt insbesondere die GKKB aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips weiterhin nur sehr langsam voran“, heißt es in einer Pressemitteilung der EU.