Entscheidungen über Karriereschritte sind unterschiedlich dramatisch. Wenn Ben Dörnhaus, Richter am Finanzgericht (FG) Düsseldorf, auf seine bisherige Laufbahn zurückblickt, erscheint sie als organische Entwicklung, wenngleich der Weg nicht fest vorgezeichnet war. Dörnhaus studierte zuerst an der Hochschule für Finanzen in Nordkirchen, der Ausbildungsstätte der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung. Nach dem Abschluss verließ er die Finanzverwaltung – ein Schritt, der regelmäßig vorkommt – und studierte Rechtswissenschaften. Im Anschluss an das Studium stieg der Diplom-Finanzwirt 2013 bei CMS Hasche Sigle in Düsseldorf ein. 2018 folgte der Wechsel ans FG Düsseldorf, wo er nunmehr auch als Pressesprecher tätig ist.
Das Gericht hatte Dörnhaus als eine Möglichkeit unter mehreren in Betracht gezogen, zumal seine Wahlstation am Düsseldorfer FG während des Referendariats einen positiven Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Ausschlaggebend für den Wechsel ins Gericht war aber die familiäre Situation. Der hohen Arbeitsbelastung und dem hohen Anwesenheitsanteil in der Großkanzlei stand die Aussicht auf mehr Flexibilität in der Arbeitsgestaltung als Richter gegenüber. „Am Gericht ist es besser möglich, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen“, hält der Jurist fest. Er zeigt sich denn auch zufrieden, was die inhaltlichen Anforderungen und die Rahmenbedingungen am FG angeht. Dörnhaus kann sich nicht vorstellen, das Gericht wieder zu verlassen.
Genau diesen Schritt in seiner Karriere beschreibt Jan Uterhark im Rückblick mit dramatischen Worten: „Mein Wechsel aus der Justiz hätte ein wirtschaftlicher Gau werden können.“ Wie Dörnhaus ist auch Uterhark Diplom-Finanzwirt. Er studierte an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und schloss ebenfalls ein Jurastudium an, beides in Hamburg. Nach dem zweiten Staatsexamen 1994 und einem kurzen Ausflug in die Beratung stieg der Jurist 1997 in die Finanzbehörde der Hansestadt ein. 2003 wurde er Richter am FG Hamburg. Seine Begeisterung für die Finanzgerichtsbarkeit ging auf eine Zuhörerstation während des dualen Studiums zurück. 2012 wechselte Uterhark dennoch als Director zu Deloitte, zwei Jahre später als Partner zu KPMG.
Nicht umsonst verweist der Jurist auf die Fallhöhe bei seinem Weggang aus der Justiz 2012. Der Richterjob ist auf Lebenszeit ausgelegt, was sich gerade beim Thema Pensionen auswirkt. Warum also der Wechsel? Er habe mit 48 Jahren den Wunsch gespürt, etwas zu verändern, erklärt Uterhark. Bei Deloitte winkte die Möglichkeit, ein forensisches Team aufzubauen. Das sei verlockend gewesen, denn: „Justiz kann eintönig sein. Man ist oft allein mit der Akte“. Schließlich habe es ihn gereizt, präventiver zu arbeiten, im Gegensatz zum Gericht, das erst mit mehreren Jahren Verzögerung zum Einsatz komme.
Einbahnstraße mit Ausnahmen
In Deutschland gibt es etwa 660 Berufsrichter an Finanzgerichten, die Gerichte in den Bundesländern und den Bundesfinanzhof (BFH) zusammengezählt. Damit ist ihre Gesamtzahl gegenüber der Beraterschaft ziemlich überschaubar: Laut Bundessteuerberaterkammer (BStBK) gab es Anfang 2024 rund 89.000 Steuerberater in Deutschland. Es ist aber kaum möglich, beide Gruppen auf dieser Grundlage zu vergleichen, da vor allem die Beratungsdisziplin Steuerstreit für (ehemalige) Finanzrichter einschlägig ist. Außerdem stellt die BStBK-Statistik auf Berufsträger ab, egal ob sie beratend tätig sind oder in einem Unternehmen arbeiten.
Beratungsgesellschaften haben ihrerseits in den vergangenen 15 Jahren das Thema Steuerstreit für sich entdeckt. Neben den Anwaltskanzleien, die traditionell prozessual stark aufgestellt sind, haben gerade die Big Four Kapazitäten aufgebaut. Mit TLR gibt es außerdem seit knapp zwei Jahren eine veritable Steuerstreitboutique mit Sitz in Freiburg – ein Novum und ein Zeichen dafür, dass der Markt in Bewegung ist.
Voraussetzungen, um Finanzrichter zu werden, sind in den meisten Bundesländern Erfahrungen in der Beratung oder Finanzverwaltung. So schätzt Ben Dörnhaus, dass mehr als die Hälfte der Neueinstellungen in den vergangenen zehn Jahren auf die Beraterschaft entfielen. Der Weg aus der Beratung ins Gericht ist durchaus klassisch, wenn auch nicht der einzige Pfad. Ihn hat auch Dr. Thomas Keß vom Niedersächsischen FG in Hannover beschritten: Diplom-Finanzwirt, Jurastudium, Promotion, drei Jahre anwaltliche Tätigkeit bei Freshfields und 2010 der Wechsel ans FG in die niedersächsische Landeshauptstadt. Hier ist er als Richter und Pressesprecher tätig.
Hingegen ist der Schritt aus der Justiz heraus ungewöhnlich. Das liegt erstens daran, dass die Bewerbung beim FG nicht am Anfang der Karriere erfolgt, sondern als bewusste Entscheidung einige Jahre später. Zweitens ist der Richterjob ein Beamtenverhältnis, das auf Lebenszeit ausgelegt ist. Je länger man die Position innehat, desto schwerwiegender ist der Schritt, unter anderem, weil Beamte sich außerhalb der gesetzlichen Altersvorsorge bewegen.
Jan Uterhark, Jan Haselmann und Martin Riegel sind ihn dennoch gegangen. Alle drei sind nach ihrem Absprung aus dem Gericht zuerst bei einer Big Four tätig geworden. Doch während Uterhark und Haselmann noch heute bei KPMG und PricewaterhouseCoopers (PwC) arbeiten, hat Riegel sich selbstständig gemacht. Er leitet die bereits erwähnte Steuerstreitboutique TLR.
Ein Sonderfall sind pensionierte Richter, die als of Counsel bei einer Beratungsgesellschaft einsteigen. So geschehen bei den früheren BFH-Richtern Michael Wendt und Prof. Dr. Dietmar Gosch. Während Wendt als Counsel bei Ypog tätig ist, ist Gosch inzwischen Partner bei WTS. Sie bewegen sich allerdings in einem anderen Karrierestadium, da zum Zeitpunkt des Wechsels ihre aktive Richterzeit vorbei war. Es sind höchst individuelle Entscheidungen, wenn Richter die Justiz verlassen und Berater ans FG wechseln. Über subjektive Erwägungen hinaus tauchen manche Themen in Gesprächen allerdings wiederkehrend auf. Der erste Themenbereich betrifft die unterschiedlichen Arbeitsweisen im Gericht und in der Beratung.
Formen der Freiheit
Reaktiv vs. aktiv – dieses Gegensatzpaar bemühen Richter und Berater übereinstimmend, um ihre Arbeitsweisen zu beschreiben. Der Schreibtisch des Finanzrichters füllt sich von allein, er reagiert im wahrsten Sinne des Wortes auf die Fälle, die ihm angetragen werden. Hingegen müssen Anwälte aktiv handeln und ihre Mandate akquirieren. Martin Riegel beschreibt das aktive Mindset als einen der großen Übergänge beim Schritt in die Beratung. Gleichzeitig hebt er die „Freiheit über den eigenen Schreibtisch“ als positiven Aspekt seiner neuen Tätigkeit hervor.
Damit einher geht freilich, dass die Arbeit in der Beratung stärker fremdbestimmt und unvorhersehbarer ist. Andersherum ist die Arbeit des Richters im Rahmen der Fälle und bei der Ausgestaltung des Arbeitsalltags sehr selbstbestimmt. Er vermisse manchmal, bestätigt Jan Haselmann, die große persönliche Freiheit, die er am FG genossen habe. Teil der persönlichen Freiheit ist auch, dass die Tätigkeit als Richter mehr von Einzelarbeit geprägt ist als in Beratungsgesellschaften. Zwar arbeiten FG-Richter in Senaten zusammen. Dennoch ist die kollegiale Kooperation in der Beratung ausgeprägter, sei es in fachlichen Teams oder interdisziplinär zwischen Anwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Das betonen die ,Gerichtsaussteiger‘ Uterhark, Haselmann und Riegel einhellig.
Uterhark geht sogar einen Schritt weiter: „Beim Übergang zu KPMG war es die größte Aufgabe, innerhalb der Organisation sichtbar zu werden und mir einen Namen zu machen.“ Steuerstreit speist sich aus anderen Beratungsdisziplinen, etwa der laufenden oder der Verrechnungspreisberatung. Die Kollegen müssen den Steuerstreitexperten also auf dem Schirm haben, damit die Rädchen ineinandergreifen. Das ist insofern ein deutlicher Unterschied zum Gericht, da Steuerstreitberatung eine doppelte Sichtbarkeit erfordert: nach außen für Mandanten und nach innen für die Kollegen.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Arbeit als Berater und Richter liegt in der Perspektive: Erstgenannter vertritt die Mandantenseite. Zweitgenannter sitzt zwischen Streitparteien, arbeitet mit beiden zusammen und hat am Ende die Entscheidungsgewalt. Für PwC-Director Haselmann war die Nähe zum Mandanten, die Interessenvertretung, ein Pro-Argument für die Beratung.
Ob man wie Haselmann lieber eine Seite vertritt oder zwischen zwei Seiten vermittelt, ist vor allem eine Persönlichkeitsfrage. So benennt Keß die Möglichkeit, Streit zu schlichten, als einen Wechselgrund ans Gericht. Und auch Dörnhaus schätzt den Platz zwischen zwei Streitparteien und das Hinwirken auf einen Kompromiss als Teil seiner Arbeit.
Inhaltliches Arbeiten
Das finanzgerichtliche Verfahren ist der letzte Schritt eines Prozesses zwischen Finanzverwaltung und Steuergericht. Knatsch bei der Betriebsprüfung, ein streitiger Steuerbescheid, das anschließende Einspruchsverfahren: Erst danach kommt das FG ins Spiel. Finanzrichter erleben also einen begrenzten Ausschnitt des Steuerrechts und sind mit vielen Entscheidungen konfrontiert, die Konfliktparteien bisweilen Jahre zuvor getroffen haben. Hingegen steigt ein Berater deutlich früher ein, zum Beispiel während einer laufenden Betriebsprüfung, und muss eine größere Bandbreite an Verfahrenswegen aus Sicht seines Mandanten mitdenken. Das prozessuale Agieren ist Teil davon, die Phase davor aber ebenso wichtig.
Ob Richter mit Beratungshintergrund oder Berater mit Gerichtserfahrung: Alle Gesprächspartner berichten, dass sie bei der jeweils anderen Station viel gelernt haben. Trotz der Entscheidung, zu gehen, blicken sie ausnahmslos positiv auf die Erfahrungen auf der anderen Seite zurück. Bei der Frage, welche Kompetenzen sie von der vorherigen Station nun nutzen, gehen die Antworten auseinander.
Richter nehmen aus der Beratung eher grundsätzliche Erfahrungen im Steuerrecht mit, zumal sie für ihre Mandanten nicht zwangsläufig im steuerstreitigen Bereich unterwegs waren. Hingegen greifen Berater mit Gerichtserfahrung auf konkrete Kompetenzen, die gutachterliche Distanz zu Fällen und die Social Skills in der steuerrechtlichen Auseinandersetzung, zurück. Es sind gerade diese Fähigkeiten, die sie in den Augen von Beratungsgesellschaften zu begehrten Arbeitskräften macht.
Thomas Keß ist die Ausnahme unter den Gesprächspartnern, wenn er die intellektuelle Herausforderung seiner Beratungsstation als größer als im Gerichtsalltag beschreibt. Bei Freshfields sei Steuerrecht am Hochreck und am Puls der Zeit betrieben worden. Jedoch sei für ihn persönlich die Steuerminimierung als Aufgabe im anwaltlichen Berufsalltag nie so recht zufriedenstellend gewesen. Der Richter zeigt sich nun zufrieden mit dem Sinn seiner Arbeit und dem direkten Kontakt zu Streitparteien.
Lebens- und Karrieregestaltung
Die unterschiedliche Work-Life-Balance zwischen Beratung und Gericht ist ein wiederkehrender Punkt in den Gesprächen mit Seitenwechslern. Sie sind sich einig, dass Arbeitsbelastung und -druck in der Beratung höher sind. Und so war nicht nur für Dörnhaus die Familienzeit ein Grund für die Bewerbung beim FG, sondern auch für Haselmann. Als er später den Schritt heraus aus der Justiz tat, war die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Unsicherheitsfaktor. „Aber der Anwaltsjob macht so viel Spaß, dass ich das Risiko eingegangen bin“, erläutert der Berater seine Abwägung.
Auch in der Karrieregestaltung zeigen sich große Unterschiede zwischen Richtern und Beratern. Während das Gericht für berufliche Stabilität und eine Bindung an Vater Staat auf Lebenszeit steht, ist der Beratungsmarkt beweglicher. Wechsel zwischen Beratungsgesellschaften sind üblich, Neugründungen kommen vor. Auch die Möglichkeiten, sich in der freien Wirtschaft weiterzuentwickeln, sind vom hierarchischen Aufstieg bis in die Partnerebene bis hin zur fachlichen Erschließung neuer Beratungsfelder breit gestreut.
Finanzrichter können sich ebenfalls weiterentwickeln, indem sie den Senat wechseln, Vorsitzender Richter eines Senates werden oder Sonderaufgaben wie der des Pressesprechers übernehmen. Außerdem ist eine Abordnung in ein Ministerium oder der Aufstieg zum BFH möglich. Trotzdem sind die Karrierechancen begrenzt und hängen von der Verfügbarkeit weniger Posten ab. Ein letzter Unterschied liegt schließlich im Einkommen. Beratungsgesellschaften zahlen deutlich höhere Gehälter. Trotz der höheren Verdienstmöglichkeiten führt kein ehemaliger Finanzrichter explizit finanzielle Gründe für seinen Weggang an. Die Justiz bietet weiterhin ein stabiles Auskommen, wobei es nicht mit den Gehältern für Berufseinsteiger, insbesondere in Wirtschaftskanzleien, konkurrieren kann.
Gegenseitiger Respekt
Übergänge aus der Beratung ins FG sind üblich, auch wenn sie quantitativ angesichts der begrenzten Anzahl an Richterposten und der niedrigen Fluktuation eine untergeordnete Rolle spielen. Nichtsdestotrotz bietet sich für Steueranwälte mit der Finanzgerichtsbarkeit eine Karriereoption. Ehemalige Richter sind in der Beratung kein Massenphänomen und das wird auch so bleiben. Dennoch zeugen die Laufbahnen von Uterhark, Haselmann und Riegel von der höheren Bedeutung des Steuerstreits als lohnendes Feld für Beratungseinheiten.
In den Gesprächen mit Seitenwechslern zwischen Justiz und Beratung blitzte immer wieder der Respekt für die andere Seite auf: Berater lobten die Finanzgerichtsbarkeit und auch Richter verloren über die Gegenseite kein böses Wort. Im Gegenteil, sie blicken positiv auf ihre eigene Station in der Anwaltschaft zurück. So sehr der Steuermarkt bisweilen in Fronten aufgeteilt zu sein scheint, so viel Wertschätzung war in den individuellen Erzählungen zu spüren.