JUVE Steuermarkt: Herr Schaebs, die Steuerverwaltung in Deutschland nimmt mit ihrer dezentralen Organisation eine Sonderrolle in Europa ein. Zu welchen Herausforderungen führt das, vor allem mit Blick auf die Digitalisierung?
Dr. Daniel Schaebs: Aufgrund des föderalen Staatsaufbaus sind Bund und Länder für die Organisation ihrer Behörden selbst verantwortlich. Was wir im Ergebnis sehen, sind 17 weitgehend eigenständige Steuerverwaltungen, die bei der digitalen Weiterentwicklung mitreden wollen. Die Ausgestaltung der digitalen Transformation verläuft höchst unterschiedlich. Das ist doppelt problematisch. Zum einen drängt für den Industriestandort Deutschland im internationalen Wettbewerb die Zeit. Zum anderen stehen die Steuerverwaltungen in Deutschland vor enormen demographischen Herausforderungen. Zunehmende Personaldefizite und -abgänge lassen sich längst nicht mehr mit einer Steigerung der Ausbildungszahlen oder der Anwerbung von Quereinsteigern kompensieren. Mit 17 Entscheidungsträgern am Tisch lässt sich die Digitalisierung sowohl innerhalb der Verwaltung als auch im Verhältnis zu den Steuerpflichtigen nicht effektiv steuern. Zentral organisierte IT-Strukturen wie bei der Bundesagentur für Arbeit und der Deutschen Rentenversicherung Bund sind hier klar im Vorteil. Daher bedarf es einer zentralen IT-Leitung mit Steuerungsbefugnissen für die gesamte Steuerverwaltung, wie dies in Europa nahezu überall der Fall ist.
Welche Bedeutung hätte eine einheitliche Steuer-IT für das Steueraufkommen und die Steuergerechtigkeit?
Zunächst einmal: Die Steuerverwaltung hat ihre einstige Vorreiterrolle unter den Verwaltungen schon lange verloren. Die Werkzeuge, die die Dienstkräfte im täglichen Steuervollzug bräuchten, stehen nur eingeschränkt zur Verfügung. Stattdessen werden Steuerdaten zum Teil noch immer händisch und mühsam zusammengetragen oder mit externen Datenbeständen abgeglichen. Medienbrüche bestimmen den Alltag in den Finanzämtern. Analoge Daten aus Schreiben, Bescheiden und Berichten in Papierform eignen sich nicht für Abgleiche und Auswertungen. Hier bleibt das Wissen zwar konserviert, aber weitgehend ungenutzt. Gleiches gilt für vorhandene Datenbestände, die mangels geeigneter Softwarelösungen und Schnittstellen nur rudimentär für Folgeprozesse zur Verfügung stehen. Eine Beschleunigung der Digitalisierung durch eine zentralere IT-Steuerung würde der Steuerverwaltung in mehrfacher Hinsicht helfen. Einerseits kann eine effektivere Digitalisierung der Prozesse und Workflows dazu führen, die demographischen Personalprobleme zu kompensieren. Andererseits können digitale Lösungen die Bediensteten so unterstützen, dass sie von Routinetätigkeiten entlastet werden und ihren originären Aufgaben besser nachkommen können. Darüber hinaus ließen sich höhere Prüfdichten durch maschinelle Vor- bzw. Automatikprüfungen erreichen. Dies dürfte sich positiv auf die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die Steuergerechtigkeit und das tatsächliche Steueraufkommen auswirken. Vor allem wenn man bedenkt, dass eine große Anzahl an kleineren Betrieben mangels Personalressourcen kaum noch zeitnah geprüft werden kann.
Bundesfinanzminister Christian Lindner will sich offenbar aus der Leitung des IT-Projekts Konsens zurückziehen und hat vorgeschlagen, diese an das Land Hessen zu übergeben. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Ob der Bundesfinanzminister diese Aussage tatsächlich getätigt bzw. diese Entscheidung getroffen hat, bleibt für mich fraglich. Zuweilen ist zu lesen, das Land Hessen hätte gegenüber dem Bund eigeninitiativ vorgeschlagen, sich stärker in die Leitung der Begleitung von Konsens-Einzelprojekten einzubringen. Wenn sich Hessen bereit erklärt, mit seiner IT-Erfahrung und -Kompetenz mehr operative Verantwortung zu übernehmen, dann ist das prinzipiell zu befürworten. Das bedeutet für mich aber nicht, dass sich der Bund aus der Leitung zurückziehen will. Offenbar wird die Finanzministerkonferenz in Kürze über die Stärkung von Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten beschließen. Dadurch sollen die Auftraggeber innerhalb von Konsens stärkeren Einfluss bekommen, wodurch sich die Schieflage bei den Priorisierungen der Projekte durch die bei Konsens traditionell sehr einflussreichen Länder Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen verbessern soll.
Wo könnte eine zentrale IT-Struktur angesiedelt sein? Welche Vorteile hätte das?
Eine grundgesetzkonforme Übertragung sämtlicher Digitalkompetenzen im Bereich der Steuerverwaltung an den Bund hätte viele Vorteile. Weil davon auszugehen ist, dass der Bund für potenzielles IT-Personal attraktiv ist und für die notwendigen Strukturen auch die finanziellen Mittel verlässlich bereitstellen könnte. Hierfür wäre die Errichtung einer Bundesoberbehörde bzw. die Ansiedlung bei einer bestehenden Behörde wie dem Bundeszentralamt für Steuern denkbar. Mit der Übertragung der Digitalkompetenzen geben die Länder ihre Befugnisse für die IT-Steuerung an den Bund ab. Die bestehenden Ressourcen aus dem Konsens-Verbund würden sinnvoll in die neue Zentralorganisation überführt. Durch die Bundesauftragsverwaltung übernehmen die Bundesländer ohnehin bereits heute die Ausführung von Bundesgesetzen. Da wäre es nur logisch, wenn der Bund ein starkes Gewicht bei der Steuer-IT erhält.
Bund und Länder arbeiten seit vielen Jahren an Konsens. Dem Vernehmen nach hat das Vorhaben bislang rund zwei Milliarden Euro gekostet. Welche Auswirkung hätte ein Rückzug des BMF?
Ein kompletter Rückzug des Bundes ist meines Wissens nicht geplant. Erstens bliebe es bei der besagten Bundesauftragsverwaltung durch die Länder, wodurch der Bund auf die Effektivität und Funktionsfähigkeit der Landessteuerverwaltungen angewiesen ist und sich angemessen beteiligen muss. Zweitens wäre sicherlich auch eine finanzielle Verpflichtung innerhalb von Konsens beizubehalten – möglicherweise in etwas geringerem Umfang. Angesichts dieser Finanzströme bleibt es aber bei der grundsätzlichen Rechenschaftspflicht des BMF gegenüber dem Bundesrechnungshof. Im Fall der verstärkten operativen Begleitung der Konsens-Projekte durch das Land Hessen könnte der Bund von seiner Seite solche Aufgaben zumindest ein Stück weit reduzieren. Denn diese verpflichten im besonderen Maße zu inhaltlicher Mitarbeit in den Gremien, vor allem zur fachlichen Begleitung der jeweiligen IT-Vorhaben. Politisch gesehen würde die operative Verantwortung dadurch stärker in Länderhand rücken, der Bund könnte sich besser auf seine Kontrollbefugnisse konzentrieren.
Wie stehen die Bundesländer zu Konsens? Ist dort noch genügend Motivation vorhanden?
Die Bundesländer verfallen tendenziell in eine abwartende, passive Haltung. Manche warten förmlich nur auf fertige Produkte aus dem Konsens-Verbund. Die Motivation für eigene Beiträge für die Steuer-IT geht speziell bei den Auftraggeberländern verloren, weil sie ihre Schuldigkeit mit ihren finanziellen Beiträgen an Konsens als erfüllt ansehen. Nur einzelne Bundesländer stellen punktuell Personalressourcen bereit oder wirken an Projekten freiwillig mit. Mehr noch: Aus den Digitalstrategien der Länder ist zu erkennen, dass Konsens die Innovationskraft auf Landesebene komplett hemmt. Allerdings zeigt sich auch, dass einige Länder aus der Not heraus selbstständig Digitallösungen erarbeiten, wenn Konsens überhaupt nicht liefert. Ein Beispiel: Im Bereich der Kollaborationsplattformen für den Austausch zwischen Verwaltung und den steuerberatenden Berufen haben vier Bundesländer parallel Lösungen erarbeitet, statt sie nach dem Prinzip ,Einer für Alle‘ den anderen zur Verfügung zu stellen.
Was könnte die Steuerverwaltung schon heute anders oder besser machen, abseits von Konsens?
Natürlich bietet der Föderalismus eine gute Möglichkeit, die Vielfältigkeit und Besonderheiten der Bundesländer abzubilden. Zugleich verlieren sich die Länder allzu gern in Kleinstaaterei – und dabei den Blick für das Gesamtprojekt. Für die Steuerverwaltung darf die IT-Kompetenz nicht vom Leistungswillen oder der Leistungsfähigkeit einzelner Bundesländer abhängen. Vielmehr ist die Digitalisierung der Steuerverwaltung als Oberaufgabe von bundesweiter Bedeutung. Im ureigenen Interesse könnten sich die Länder neben der materiellen Förderung von Konsens durch zusätzliche ideelle Beiträge engagieren. Beispielsweise könnten sie eigene Forschungs-Cluster mit Universitäten oder Hochschulen ihres Landes aufbauen oder Wissenschaftsinitiativen fördern, die sich mit der Weiterentwicklung und Effizienzsteigerung der Steuerverwaltung befassen. Die Erprobung eigener Ideen muss wieder in den Mittelpunkt rücken, denn Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft. Dabei gilt es, vorhandene IT-affine Personalressourcen zu stärken und Modellprojekte als Teil ihres Dienstes zu ermöglichen. Das bedeutet nicht, dass die Vorhaben bis zur Endentwicklung getrieben werden. Auch hier bietet sich das ,Einer-für-Alle‘-Prinzip an. IT-Kräfte könnten im Angestelltenverhältnis qualifikationsgerecht eingestellt und bezahlt werden. Am Ende amortisieren sich diese Bediensteten durch ihre geschaffenen Mehrwerte im Sinne einer funktionsfähigen Steuerverwaltung.
Viele Unternehmen und Inhouse-Steuerfunktionen gehen das Thema Digitalisierung zügig an. Kann die Steuerverwaltung diesen Unternehmen noch auf Augenhöhe begegnen?
Bei der digitalen Transformation der Steuerverwaltung steht viel mehr als nur die Programmierung und der Weiterbetrieb von Software im Vordergrund. Um für die Privatwirtschaft und die Steuerbürger passende Andockmöglichkeiten zu schaffen, müssen die verschiedenen Akteure an einen Tisch geholt werden und gemeinsam über ,Best-Practice‘-Ansätze diskutieren. Gerade solche Erprobungskulturen sind es, die in den Unternehmen zum Treiber des Fortschritts werden. Konsens gibt gemeinschaftlichen Digital- bzw. Innovationslaboren und der Entwicklung von Vorzeigekonzepten für eine moderne Verwaltung zu wenig Raum. So können die Steuerverwaltungen bei der Fortschritts- und Veränderungsgeschwindigkeit nicht mithalten. Oftmals gibt ihnen das geltende Recht aber auch nicht die notwendigen Spielräume. Anders als Privatkapital dürfen Steuergelder nicht beliebig eingesetzt werden. Gleichwohl gilt aber auch, dass die Steuerpflichtigen ein Recht auf eine funktionsfähige, effektive und wirtschaftliche Verwaltung haben.
Konsens erinnert ein wenig an einen jahrelangen Eiertanz. Warum halten die Verantwortlichen trotzdem daran fest?
Die Steuerverwaltungen kooperieren bei der Informationstechnik bereits seit den 1960er Jahren. Viele der Programmierverbünde und Projekte stießen seitdem mehrfach an ihre Grenzen. Die Kritik der Rechnungshöfe an den langwierigen Entwicklungsprozessen und hohen Kosten ebbt nicht ab. Dass die Verantwortlichen trotzdem am föderalistischen Verbund festhalten, mag für Außenstehende schwer nachvollziehbar sein. Politiker betonen gebetsmühlenartig die bisherigen Erfolge, meiden aber die Diskussion über alternative Ansätze für die Steuer-IT. Vielleicht scheuen sie eine neue Föderalismusdebatte. Im Ergebnis halten die Verantwortlichen am Mammut-Projekt Konsens fest – koste es, was es wolle. Frei nach dem Motto: Geteiltes finanzielles Leid ist halbes finanzielles Leid für die Haushalte von Bund und Ländern. Das Problem: Konsens verlangt nach immer mehr finanziellen Mitteln, doch diese allein führen nachweislich nicht zu mehr Effizienz in den Strukturen.