Kernaussagen
- Die Veröffentlichung der Verwaltungsgrundsätze Verrechnungspreise 2023 und die Implementierung des Kapitels zu Funktionsverlagerungen markieren einen wichtigen Schritt zur Vereinheitlichung der Verwaltungsanweisungen zu Verrechnungspreisen.
- Einseitige Verschärfungen der Mitwirkungs- und Nachweispflichten ohne gesetzliche Grundlage sowie die Aufnahme der BFH-Urteile zur Sperrwirkung und die Wiederholung der Verwaltungsansicht zur dynamischen Auslegung von Art. 9 OECD-MA werden die Zusammenarbeit mit den Steuerpflichtigen nicht harmonischer gestalten.
- Die Neufassung der Ausführungen zu Funktionsverlagerungen birgt potenzielle Streitpunkte für zukünftige Betriebsprüfungen. Insbesondere die Ergänzungen hinsichtlich der DEMPE-Funktionen und der Ausübung von Kontrollfunktionen sowie die Ausschlussklausel bei Vorliegen von sonstigen Vorteilen bleiben unklar und bedürfen konkreter Erläuterungen zur Umsetzung in der Praxis.
- Die Frage nach der Fremdüblichkeit eines unbesicherten Darlehens und der Methodenwahl zur Zinssatzermittlung kann in Zukunft wieder offener mit der Finanzverwaltung diskutiert werden kann. Die vormals enthaltenen extremen Positionen wurden auf Druck der BFH-Rechtsprechung aufgegeben.
Strukturelle Änderungen im Vergleich zur alten Fassung
Strukturell positiv hervorzuheben ist zunächst, dass der Aufbau der Verwaltungsgrundsätze Verrechnungspreise 2021 beibehalten wurde, was eine gewisse Konstanz in der Aufarbeitung der OECD-Grundsätze innerhalb der Finanzverwaltung zeigt. Mit den Verwaltungsgrundsätzen Verrechnungspreise 2021 wurde bereits eine nachhaltige Struktur gelegt, indem eine Überschrift inklusive Verweis auf das bis dato gültige BMF-Schreiben der VWG Funktionsverlagerung ohne weitere Anmerkungen enthalten war. Daher haben die inhaltlichen Änderungen des neuen Schreibens keine Auswirkung auf die Gliederung und Struktur des Schreibens.
Eine Neuerung ist, dass die deutsche Version der OECD-Verrechnungspreisleitlinien 2022 direkt in die Anlage 1 aufgenommen wurde, wodurch das Schreiben an Umfang gewonnen hat. Dies führt jedoch zu einer gewissen Unübersichtlichkeit, und leider gehen die hilfreichen Beispiele zu Funktionsverlagerungen auf den letzten Seiten (Anlage 3) nahezu unter.
Wesentliche Aussagen zu Korrekturnormen und der Bedeutung der OECD-Verrechnungspreisrichtlinien
Kernpunkt des Kapitels I ist das Konkurrenzverhältnis der Korrekturnormen der verdeckten Gewinnausschüttung, der verdeckten Einlage und des § 1 AStG. Änderungen im Vergleich zu den Verwaltungsgrundsätzen Verrechnungspreise 2021 beziehen sich nahezu ausnahmslos auf redaktionelle Anpassungen. Lediglich an zwei Stellen wurden inhaltliche Neuerungen eingeführt: So enthalten die Randziffern 1.5 und 1.22 neuerdings einen Verweis auf die BFH-Urteile v. 27.2.2019 (I R 73/16) sowie v. 9.6.2021 (I R 32/17), in denen sich der BFH mit der Frage der Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 1 OECD-MA für Korrekturen gem. § 1 AStG dem Grunde nach beschäftigt hatte. Der BFH hatte klargestellt, dass eine fehlende Darlehensbesicherung zu den „Bedingungen“ i. S. des § 1 Abs. 1 AStG gehört und im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller Umstände der Transaktion zur Fremdunüblichkeit einer Geschäftsbeziehung führen kann. Die Fremdüblichkeit sei dabei vorrangig über eine Preisanpassung herzustellen.
Kapitel II beschreibt im Wesentlichen die Bedeutung der OECD-Verrechnungspreisleitlinien für die Prüfung der grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen. Neben redaktionellen Anpassungen nimmt die Finanzverwaltung in den Verwaltungsgrundsätzen Verrechnungspreise 2023 weitere Konkretisierungen in Bezug auf die von ihr vertretene Auffassung zur dynamischen Auslegung von Art. 9 Abs. 1 OECD-MA nachgebildeten Artikeln in den jeweiligen DBA vor. Der BFH widerspricht regelmäßig dieser Ansicht und betont die rechtliche Auslegung des § 1 AStG, die nicht durch ökonomische Methoden ersetzt werden kann (BFH, Urteil v. 25.5.2011 – I R 95/10 NWB UAAAD-88272 m. w. N.; BFH, Urteil v. 11.7.2018 – I R 44/16 NWB JAAAH-03437). Mit Schreiben v. 19.4.2023 hat das BMF einen Nichtanwendungserlass veröffentlicht (IV B 5 – S 1341/12/10001-03) der jedoch keine überzeugenden Argumente bietet.
Erhöhung der Mitwirkungspflichten für den Steuerpflichtigen
Kapitel III beschreibt zunächst die bestimmenden Merkmale des Fremdvergleichs, wie die Denkfigur des doppelten ordentlichen Geschäftsleiters, das Abstellen auf die tatsächlichen Verhältnisse, einheitliche Anwendung bei Inbound- und Outbound-Fällen, der Risikokontrollansatz und die Analyse von Handlungsoptionen.
Im Vergleich zur Vorgängerversion gibt es eine Änderung hinsichtlich der Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen bei der Sachverhaltsaufklärung in Randziffer 3.2. Die Finanzverwaltung betont erneut das Verständnis, dass der Steuerpflichtige für die umfassende Sachverhaltsaufklärung zuständig ist, und die Finanzverwaltung die sachgerechte Würdigung unabhängig von den Angaben des Steuerpflichtigen vornimmt. Der Steuerpflichtige muss bei Abweichungen das Gegenteil beweisen.
Das Verständnis des BMF bezüglich der Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen kann unter Berücksichtigung der ohnehin bereits sehr hohen Bürden auf Seiten des Steuerpflichtigen durchaus als realitätsfremd und nicht von den gesetzlichen Vorgaben der Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 3 und § 200 AO gedeckt betrachtet werden. Darüber hinaus sollten sich aus der Änderung keine neuen Anforderungen an die erweiterte Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 3 AO ergeben, wenngleich sie die Diskussionen mit den Finanzbehörden weiter erschweren können.
Neues zu Funktionsverlagerungen
Abschnitt I der Verwaltungsgrundsätze Verrechnungspreise 2023 bringt den bedeutendsten Einschnitt im Vergleich zu den Verwaltungsgrundsätzen Verrechnungspreise 2021. Es ersetzt das seit fast 13 Jahren bestehende BMF-Schreiben vom 13.10.2010 allerdings nur für Sachverhalte, die nach dem 31.12.2021 verwirklich wurden. Für davor verwirklichte Sachverhalte bleibt das alte BMF-Schreiben (VWG Funktionsverlagerung 2010) weiterhin gültig. Es muss daher genau geprüft werden, welche Fassung des § 1 AStG, der Funktionsverlagerungsverordnung und der Verwaltungsgrundsätze anzuwenden ist.
Inhaltsvergleich mit den VWG Funktionsverlagerung
Die Finanzverwaltung hat zahlreiche Absätze und Formulierungen aus den VWG Funktionsverlagerung 2010 übernommen. Allerdings wurden auch Ergänzungen vorgenommen, die zu Diskussionen in Betriebsprüfungen führen könnten.
Darunter fällt etwa die Erweiterung des Beispielkatalogs um die Ausübung von DEMPE-Funktionen und die Kontrolle von Risiken, die zukünftig explizit als Funktionen im Sinne des § 1 Abs. 3b AStG gelten sollen. Die bloße Verlagerung einzelner DEMPE-Funktionen oder Risikokontrollinstanzen sollte dabei jedoch regelmäßig nicht ausreichen, um eine Funktionsverlagerung zu bejahen.
Hinsichtlich der Verlagerung dem Grunde nach wurden ansonsten zahlreiche Absätze aus den VWG Funktionsverlagerung 2010 übernommen. Dennoch wurden auch zusätzliche Ergänzungen vorgenommen, die den Fokus der Finanzverwaltung verdeutlichen, etwa hinsichtlich des Ausschlusses der Öffnungsklausel zur Vermeidung einer Transferpaketbewertung bei Vorliegen von „sonstigen Vorteilen“. Das Rechtsverständnis des BMF verbunden mit der Schwierigkeit der Definition von sonstigen Vorteilen wird vermutlich weitere Diskussionsgrundlagen in Betriebsprüfungen liefern. Hier empfiehlt sich eine lückenlose Dokumentation in Fällen, in denen bewusst auf eine Transferpaketbewertung verzichtet wurde.
Schließlich soll lt. BMF in Rz. 3.92 auch die Abschmelzung von Funktionen und Risiken auf ein Unternehmen mit niedrigem Funktions- und Risikoprofil weiterhin regelmäßig eine Funktionsverlagerung darstellen. Dies gilt jedoch nur dann, wenn zusätzlich eine Verlagerung von immateriellen Werten oder sonstigen Vorteilen vorhanden sein.
Transferpaketberechnung
Die Transferpaketberechnung folgt grundsätzlich weiterhin den etablierten Kriterien aus den VWG Funktionsverlagerung 2010, wobei davon ausgegangen wird, dass regelmäßig der hypothetische Fremdvergleich als einzig geeignete Verrechnungspreismethode zur Anwendung kommen dürfte. Explizit werden dabei kapitalwertorientierte Verfahren als Bewertungsstandard anerkannt. Darüber hinaus wurden einige Anpassungen vorgenommen, wie z.B. der Begriff „Barwert“ durch „finanzielle Überschüsse“ ersetzt. Daneben geht das BMF im Detail auf die folgenden Themenfelder ein.
(1.) Umfang des Transferpakets: Ein Transferpaket muss immer als Ganzes betrachtet werden, auch wenn die Funktionsverlagerung mittels gesonderter Verträge erfolgt.
(2.) Kapitalisierungszeitraum und -zinssatz: Elemente des bisherigen BMF-Schreibens wurden weitestgehend übernommen, aber auch neue Anforderungen hinsichtlich der Beweislast bei einem kürzeren Kapitalisierungszeitraum wurden eingeführt.
(3.) Erwartungswerte bei Funktionsabschmelzungen: In Fällen von Funktionsabschmelzungen müssen Erwartungswerte berücksichtigt werden. Es wird außerdem die Regelvermutung aufgestellt, dass ein negativer Einigungsbereich seine Ursache häufig in den zugrunde gelegten Parametern des Bewertungsmodells haben sollte und insofern regelmäßig unzutreffend sein dürfte.
(4.) Einigungsbereich: Die Ermittlung des Mindestpreises und die Berücksichtigung zu erwartender Steuerbelastungen wurden in den Randziffern 3.112–3.116 behandelt. Neue Beispiele in Anlage 3 können bei der Ermittlung des Einigungsbereichs hilfreich sein.
(5.) Schadensersatz: Zum Abschluss des Abschnitts wird auf die Fremdüblichkeit von Schadensersatzmöglichkeiten eingegangen. Die Finanzverwaltung beschränkt sich hierbei auf eine Wiederholung der Rz. 132 VWG Funktionsverlagerung 2010 und verweist ansonsten auf die Ausführungen der OECD zu diesem Thema, wodurch die weiteren Erläuterungen aus dem alten BMF-Schreiben obsolet erscheinen.
Schließlich erfolgt, wie bereits in § 8 FVerlV 2022 die Feststellung, dass die Regelungen zur Funktionsverlagerung auch für Sachverhalte zwischen Betriebsstätten eines Unternehmens gelten sollen.
Fazit zu Funktionsverlagerungen: Neu ist nicht immer besser
Im Zuge dieser Aktualisierung und Verkürzung wurden etwa einige Vereinfachungsregelungen ersatzlos gestrichen, wie zum Beispiel die Bagatellregelung bei Funktionsverdopplung (VWG Funktionsverlagerung 2010, Rz. 49) sowie die Klarstellungen zur Abgrenzung gegenüber Dienstleistungen und zur Veräußerung oder Nutzungsüberlassung von immateriellen Wirtschaftsgütern (VWG Funktionsverlagerung 2010, Rz. 51 ff.).
Zusätzlich verpasst das BMF die Gelegenheit, die in der Literatur häufig kritisierte Streichung des § 4 Abs. 2 FVerlV a. F., der die Anscheinsvermutung einer Nutzungsüberlassung behandelte, zumindest auf Verwaltungsebene zu korrigieren. Ebenso wurde versäumt, deutlich hervorzuheben, dass bei Verlagerungen von Routinefunktionen im Allgemeinen eine Bewertung des Transferpakets ausgeschlossen ist. Solche Aussagen wären besonders im internationalen Vergleich von hoher Bedeutung und Praxistauglichkeit gewesen und hätten den Steuerpflichtigen dabei geholfen, die Regelungen in angemessenem Verhältnis und im Einklang mit ausländischen Finanzbehörden umzusetzen. Mit der aktuellen Fassung besteht weiterhin das Risiko zahlreicher Verständigungsverfahren aufgrund unterschiedlicher Interpretationen der OECD-Grundsätze im Kapitel IX, obwohl das ursprüngliche Ziel der Finanzverwaltung darin bestand, eine Harmonisierung mit diesen Richtlinien zu erreichen.
Wesentliche Änderungen bei Finanzierungsbeziehungen
Die Anpassungen zu Finanzierungsbeziehungen sind neben den neu hinzugekommenen Ausführungen zu Funktionsverlagerungen die bedeutendsten Neuerungen im Vergleich zu den Verwaltungsgrundsätzen Verrechnungspreise 2021. Die Finanzverwaltung musste aufgrund diverser BFH-Urteile einige strittige Positionen des Schreibens aus 2021 relativieren, nutzte die Urteile hingegen an anderen Stellen auch, um eigene Ansichten zu unterstreichen. Die Gliederung des Abschnitts wurde größtenteils beibehalten, abgesehen von einem redaktionellen Fehler beim Cash Pool.
Anwendung der Kostenaufschlagsmethode
Die bisherige Auffassung der Finanzverwaltung, dass bei der Bestimmung des Entgelts für Konzerndarlehen durch eine risikoarme Finanzierungsgesellschaft immer die Kostenaufschlagsmethode anzuwenden sei, wurde nach dem BFH Urteil v. 18.05.2021 (I R 4/17 NWB SAAAH-93024) angepasst. Jetzt werden nachgewiesene und direkt zurechenbare Betriebskosten als Kostenbasis herangezogen, wenn die Kostenaufschlagsmethode als am besten geeignete Methode angewendet wird. Indirekt räumt das BMF mit dieser Formulierung ein, dass gem. BFH-Urteil grundsätzlich auch eine Prüfung der Anwendbarkeit der Preisvergleichsmethode vorzunehmen ist. Die Möglichkeit des Vorliegens einer zusätzlichen Transaktion, um das Auseinanderfallen von Finanzierungs- und Kontrollfunktion abzudecken, wird eingeräumt, ohne nähere Details dazu anzugeben.
Wissensvorsprung bei der Darlehensbepreisung
Eine völlig neu hinzugekommene Formulierung in Rz. 3.127 besagt, dass fremde Dritte einen Wissensvorsprung in der Bepreisung eines Darlehens berücksichtigen würden, der sich im Konzernverbund aus den gesellschaftsrechtlich begründeten Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten ergibt. Wie dieser Wissensvorsprung im Einzelfall zu berücksichtigen ist, bleibt unklar. Die Finanzverwaltung sieht eine Reduktion des Zinssatzes im Rahmen des Konzernrückhalts trotz Nicht-Besicherung vor, was Fragen aufwirft und indirekt eine Rückkehr zur Preisvergleichsmethode eröffnet.
Nichtbesicherung eines Darlehens
Abschließend räumt das BMF ein, dass sowohl besicherte als auch nicht besicherte Darlehen fremdüblich sein können. Entscheidend ist, ob auch ein fremder Dritter das Darlehen unter gleichen Bedingungen ausgereicht hätte, unter Berücksichtigung möglicher Risikokompensationen. Die übrigen Unterabschnitte zu Finanzierungsbeziehungen enthalten keine wesentlichen Neuerungen.
Fazit
Auch nach Veröffentlichung der Verwaltungsgrundsätze Verrechnungspreise 2023 wird es nach Aussagen von Vertretern der Finanzverwaltung auch weiterhin essenziell auf die detaillierte Dokumentation der Sachverhalte ankommen, um Diskussionen in Betriebsprüfungen von vornherein zu minimieren. Die jüngste Rechtsprechung zum Thema Funktionsverlagerung durch das FG Niedersachen v. 16.3.2023 (10 K 310/19) zeigt jedoch, dass eine abweichende Interpretation der gesetzlichen Grundlage nicht ohne Weiteres akzeptiert werden muss und eine Verteidigung der eigenen Position durchaus angemessen und sinnvoll sein kann.