JUVE Steuermarkt: Sie haben sicherlich aufgeatmet, als Ernst & Young (EY) bekanntgegeben hat, die geplante Aufspaltung nun doch nicht zu vollziehen.
Fritz Esterer: EY ist einer unserer größten Wettbewerber. Ein weiterer Player, der vollständig auf das Prüfungsgeschäft verzichtet, hätte für uns eine neue, relevante Konkurrenz auf dem Markt dargestellt. Trotzdem wäre diese Situation nicht von heute auf morgen entstanden. Denn Prüfung und Beratung zu trennen, ist nicht ganz leicht. Die Prüfer sind bislang auf die Steuerberater angewiesen. Der Trennungsprozess hätte bei EY sicherlich einige Jahre gedauert. Also genug Zeit für uns, um uns darauf einzustellen, uns weiterzuentwickeln und zu wachsen.
Und das mit dem Wachstum funktioniert?
Natürlich, wir wachsen auch im laufenden Geschäftsjahr wieder zweistellig. Da sehe ich ehrlich gesagt kein Limit. Die Grenzen des Wachstums im Steuermarkt gelten nicht für uns.
Wieso das?
Das liegt an unserem Geschäftsmodell. Das Outsourcing, also die Komplett- bzw. Teilübernahme von Steuerfunktionen, generiert kein völlig neues Geschäft im Markt. Es ist eher eine bloße Umschichtung bereits bestehender Ressourcen. Hinzu kommen dann das Neugeschäft und die deutlich zunehmenden Umsätze, die wir mit unserem weiteren Standbein Tax Advisory erzielen.
Big Four und Next Seven setzen doch ebenfalls auf Outsourcing! Zum Teil unterscheiden sich die Ansätze zwar – aber die von Ihnen genannte bloße Umschichtung von Geschäft dürfte doch auch bei Ihren Wettbewerbern erfolgen.
Die Grenzen des Wachstums in der Steuerberatung sind bei unseren Wettbewerbern aber durch die Wirtschaftsprüfung determiniert. Immer wieder hört man, dass Wettbewerber X oder Y Mandate abgeben musste, weil ein Konflikt entstand. Ähnlich sieht es dann mit dem Personal aus – da profitieren wir ebenfalls mit regelmäßigen Neuzugängen, die Steuerberatung ohne Interessenkonflikte vornehmen möchten.
Wo sehen Sie die größten Wachstumspotenziale?
Ganz eindeutig in der steuerlichen Prozessberatung und der damit zusammenhängenden Digitalisierung. Künstliche Intelligenz wird eine ganz entscheidende Rolle spielen. Chat GPT hat sehr deutlich gemacht, dass wir uns – um es mit den Worten von Olaf Scholz auszudrücken – in einer echten Zeitenwende befinden. Wir sind sehr gut vorbereitet, forschen schon lange am Thema KI und haben mittlerweile fast 300 Mitarbeitende in unserer Digitaleinheit WTS Digital versammelt. Trotzdem müssen wir schnell agieren.
PricewaterhouseCoopers (PwC) war hier allerdings deutlich schneller als Sie.
PwC hat mit der Kooperation mit Harvey als erste reagiert – das ist richtig. Doch letztlich ist der Kampf um die Daten noch nicht entschieden.
Wie meinen Sie das?
Vor allem die großen Fachverlage sitzen auf einer Goldgrube, denn sie haben das steuerliche Wissen bereits verschriftlicht. Eine KI wie Harvey will mit eben diesen Daten gefüttert werden. Wir werden deshalb mit einigen entscheidenden Fachverlagen und Datenbanken erste Gespräche führen.
Auch hier sind Sie nicht die einzigen.
Das stimmt. Aber eins ist auch sicher: Wir haben vor sieben Jahren als erste der großen Steuerberatungsgesellschaften angefangen, uns mit KI zu beschäftigen. Uns schwebte in all den Jahren speziell für den Steuerbereich ein Chatbot vor, ähnlich wie es OpenAI nun mit Chat GPT realisiert hat. Das nötige Invest wäre jedoch zu hoch gewesen. Die Erkenntnisse, die wir in dieser Zeit gesammelt haben, sind aber gültig. Entsprechend haben wir uns aufgestellt.
Was bedeutet das konkret?
KI wird Jobs in der Steuerbranche ersetzen – das ist Fakt. Es wird sowohl repetitive als auch wissensbasierte Aufgaben betreffen. Gestaltende Tätigkeiten wird es weiterhin geben. Zudem befindet sich der Berufsstand im Wandel: Wir werden von Steuerberatern zu steuerlichen Prozessberatern. Genau das sind wir zu einem großen Teil schon heute. Steuerliche Prozessberater wird die künstliche Intelligenz so leicht nicht ersetzen.
Das müssen Sie erläutern.
Bei der Analyse von Fehlern nutzen wir heute schon Process Mining, also quasi eine Form von KI. Aber die End-to-End-Implementierung eines Prozesses wird die KI eben nicht übernehmen können, weil sie nicht den gesamten Prozess überblicken kann. Nehmen Sie zum Beispiel grenzüberschreitende Prozesse in der Umsatzsteuer. Hier ist eine enge Verknüpfung mit dem Rechnungswesen erforderlich.
Steuern und Accounting rücken – bis auf wenige Ausnahmen – also generell eher zusammen?
Richtig. Und noch mehr: Wir müssen weg von der vertikalen zu einer horizontalen Denke – Steuern ist in den Unternehmen schon lange keine Alleinveranstaltung mehr. Das gilt vor allem für große Unternehmen, die mit Themen wie ESG, ViDA (VAT in the Digital Age; Anm. d. Red.) und Pillar II beschäftigt sind und auch in Zukunft beschäftigt sein werden. Der Austausch in den Unternehmen wird enger, die Stellung der Steuerfunktion wichtiger – da braucht es auch weiterhin den Berater.
Das erfordert nicht nur eine starke Marke in Deutschland, sondern auch ein globales Netzwerk. Sind Sie da wirklich schon so weit?
Wir haben ein globales Netzwerk, das es – zumindest für unsere Bedürfnisse in der Steuerberatung – durchaus mit denen der Big Four aufnehmen kann. Unser Netzwerk ist exklusiv, wir haben mittlerweile globale Service Lines für verschiedene Steuerdisziplinen etabliert. Die Anforderungen für einzelne Landesgesellschaften ändern sich ebenfalls durch den Einsatz von KI. Wir stehen international sehr gut da. Schauen Sie sich unsere Beratung zu Pillar II an. Wir sind hier marktführend – weil Konzernberatung unsere DNA ist, aber eben auch mithilfe unseres Netzwerks.
Ihre angekündigte Mittelstandsoffensive ist Vergangenheit?
Mitnichten. Vielleicht müsste ich aber einmal näher ausführen, was wir genau unter Mittelstand verstehen. Für uns gehören auch Unternehmen dazu, die die 750-Millionen-Euro-Umsatzmarke überschreiten. Was bei uns sicher keinen Schwerpunkt ausmacht, ist das Private-Clients-Geschäft. Wir haben hier einige tolle Mandate, aber die Beratung von Konzernen, und damit meine ich durchaus auch große Familienunternehmen, ist und bleibt unser Schwerpunkt. Ich möchte aber auch nichts ausschließen.
Also irgendwann doch Wirtschaftsprüfung?
Nein, dieser Bereich ist und bleibt für uns tabu.
Sie haben vor nicht allzu langer Zeit ihre Geschäftsbereiche getrennt und agieren nun unter den drei Dächern Tax, Digital und Advisory. Gehört nicht zumindest die Digitalisierung eigentlich als Klammer vor die Bereiche Steuern und Beratung?
In der Tat haben wir eine Matrix-Struktur aufgebaut. Die WTS Digital ist aus vielen Gründen gewerblich tätig und beschäftigt auch Digitalexperten aus den MINT-Fächern. Zum einen kann man diesen in einer eigenen Gesellschaft andere Perspektiven bieten. Zum anderen sind meine Erfahrungen klar: Einem Informatiker kann ich das Thema Steuern näherbringen, einen Steuerberater für IT zu begeistern ist ungleich schwerer.
Der IT-affine Steuerberater ist also eine Mär?
Natürlich stimmt das nicht pauschal. Steuerberater, die sich von sich aus für das Thema interessieren, gibt es ohne Zweifel. Allerdings sind aus meiner Wahrnehmung Menschen mit technischem Hintergrund offener für Steuerthemen als Menschen mit steuerlichem Hintergrund für die Technik. Die Ausbildung muss ohnehin in eine andere Richtung gehen.
Die da wäre?
Wie ich am Anfang unseres Gesprächs bereits erwähnte, müssen wir zunehmend zu Prozessberatern werden. Dem muss auch die Ausbildung Rechnung tragen. Ein Beispiel: BFH-Urteile bis ins letzte Detail zu durchdringen, wird immer unwichtiger. Das übernimmt mehr und mehr die KI. Kommunikation zwischen verschiedenen Stakeholdern im Unternehmen, das Übersetzen von Steuerthemen und das Verstehen und Implementieren von steuerlichen End-to-End-Prozessen – dies werden die Aufgaben der Zukunft unseres Berufsstandes sein.
Die Bundessteuerberaterkammer (BStBK) scheint das allerdings noch nicht mitbekommen zu haben.
Mein Eindruck ist ein anderer. Prof. Dr. Hartmut Schwab (Präsident der BStBK; Anm. d. Red.) hat das Thema auf jeden Fall auf dem Schirm. Ich bin optimistisch, dass wir die Transformation des Berufs hinbekommen.