JUVE Steuermarkt: Herr Hubertus, kürzlich haben Sie angekündigt, den Steuerbereich von Baker Tilly stärker in Richtung einer ‚Tax-Boutique‘ zu entwickeln. Im JUVE Steuermarkt-Interview vor über zwei Jahren sagten Sie noch, Sie wollten größere Mandate, mehr Internationalität – insbesondere im Outsourcing – und sich auch stärker mit den Big Four messen. Das klingt jetzt erstmal nach einem Widerspruch.
Oliver Hubertus: Das ist aus meiner Sicht kein Widerspruch. Vielmehr ist das, was wir damals angestoßen haben, bereits nahezu vollständig erreicht. Aber natürlich ist das immer ein fortlaufender Prozess. Und um es klarzustellen: Wir haben nicht gesagt, dass wir die Big Four überholen wollen. Aber wir begegnen ihnen regelmäßig in Pitches. Wir bewegen uns erfolgreich in denselben Gewässern und haben eine Augenhöhe mehr als erreicht – das wird uns auch von Mandanten und Wettbewerbern gespiegelt.
Was hat das aber mit einer Boutique zu tun?
Die Zielsetzung ist eine andere. Wir könnten nur das Ziel haben, unseren Umsatz in einem bestimmten Zeitraum zu verdoppeln und sonst nichts ändern. Stattdessen haben wir eine andere Idee entwickelt, die aus konkreten Mandaten und Anfragen entstanden ist. Der Commodity-Bereich verändert sich stark. Darüber hinaus gibt es aber noch eine Spitze. Und dieser Spitze haben wir den Namen ‚Boutique‘ gegeben. Wir wollen uns noch stärker auf die Spitze konzentrieren, auf besonders anspruchsvolle Mandate. Diesen Fokus nennen wir ‚Boutique‘.
High-End plus Standardgeschäft
Es geht also gar nicht mehr um Wachstum?
Der Begriff Boutique bedeutet nicht klein, sondern auf unsere Praxisgruppen und Bundle-Leistungen gespiegelt, Leuchttürme – mit einem sehr hohen Anspruch an Qualität und dementsprechend feinem Mandatsportfolio. Dazu gehören große Einheiten, internationale, Outsourcing-Projekte, komplexe Nachfolgeregelungen, die Beratung von Private Clients und Transaktionen sowie Corporate Themen. Dies haben wir unter dem Begriff ‚Boutique-Charakter‘ gebündelt. Wir sehen keinen Widerspruch, sondern den nächsten Schritt.
Es bleibt also auch bei der MDP-Struktur?
Ja, wir bleiben eine MDP. Wir entwickeln innerhalb dieser Struktur unsere spezialisierten Einheiten weiter. Ein Beispiel ist unser Real-Estate-Team um Steffen Meining und Andreas Griesbach – das ist absolute Spitzenklasse. Wenn man das Team ausgliedern würde, wäre es eine eigene Boutique. Das stellt unseren Leuchtturm Real Estate dar. Ähnlich bei Ursula Augsten und ihrem Team im Bereich Gemeinnützigkeit. Es gibt in Deutschland nur wenige, die auf diesem Niveau arbeiten. Diese Teams nutzen die Plattform der MDP, agieren aber wie spezialisierte Boutiquen. Dahinter steht eine Vielzahl von Steuerpartnern; gemeinsam haben wir diesen strategischen Kurs entwickelt.
Besteht da nicht die Gefahr, dass Einzelbereiche zu stark isoliert agieren und das Verweisgeschäft unter die Räder kommt?
Wir sind überzeugt, dass die Leuchttürme zusätzliches Geschäft generieren und nicht das Basisgeschäft ersetzen. Und genau das unterscheidet uns von so manchem Wettbewerber.
An welche Wettbewerber denken Sie da genau?
Ich habe da durchaus einige im Kopf, wobei dort das Setup ein anderes war. Hier ist man eher als ‚Boutique‘ gestartet und hat Commodity-Themen wie Audit oder Deklaration nachträglich ergänzt. In unserem Fall ist es umgekehrt: Wir haben eine breite Basis und bauen gezielt spezialisierte Einheiten obendrauf. Wir haben bereits ein starkes Standardgeschäft mit hochwertigen Anfragen. Wenn wir nun gezielt den High-End-Bereich weiter ausbauen, ohne das Basisgeschäft zu vernachlässigen, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Unsere Erfahrung zeigt: Wenn wir anspruchsvolle Mandate mit hoher Qualität bearbeiten, steigert das nicht nur den Umsatz, sondern auch unsere Sichtbarkeit und Attraktivität im Markt. Das Standardgeschäft läuft, wir wollen es nur künftig noch besser positionieren. Wir wollten nicht einfach nur größer werden, sondern verfolgen eine klare Idee. Und die trägt. Gerade international sehen wir weiteres Wachstumspotenzial – nicht zuletzt durch den Merger von Baker Tilly US mit Moss Adams. Damit wurde Baker Tilly US in Nordamerika auf ein Volumen von 3,8 Milliarden Dollar verdoppelt. Das eröffnet natürlich neue Perspektiven für unsere transatlantischen Beziehungen.
Private Equity? Wir haben keinen ‚Need‘, zwingend irgendwo aufzuspringen.
Apropos: Das Private-Equity-Haus Hellman & Friedman hatte in den von Ihnen genannten US-Merger investiert. Gerüchten zufolge soll Baker Tilly auch hier offen sein für eine Partnerschaft mit einem Finanzinvestor. Wäre das aus Ihrer Sicht interessant?
Also zum einen sehen wir das Thema ‚Investoren im Bereich von Beratungshäusern‘ als Businessmodell. Wir unterstützen potenzielle Investoren mit unseren Disziplinen aus Tax, Legal, Financial bei dem Eintritt, der anspruchsvollen internationalen Struktur und natürlich auch bei zukünftigen Exitszenarien. Ronny Walter und Frank Stahl treiben dieses Thema im Business massiv. Denn der gesamte deutsche Markt ist hier in Bewegung – siehe zuletzt WTS/EQT. Das Standesrecht stellt dabei eine ‚Hürde‘ im Vergleich zu anderen Jurisdiktionen dar. Wie Sie wissen, haben wir als Baker Tilly Deutschland vor Jahren erfolgreich unser Partnermodell umgestellt und daher keinen ‚Need‘, zwingend irgendwo aufspringen zu müssen.
Für all die angesprochenen Themen braucht es nicht nur Spezialisierung und gute Berater, sondern auch die entsprechende Entwicklung in Sachen Tax Technology. Hier sind die Big Four doch schon deutlich weiter.
Die Entwicklung in Tax Technology ist rasant. Wenn ich Ihnen heute sage, wie der Stand ist, kann dieser übermorgen schon wieder ganz anders aussehen. Für uns ist klar: Wir sind kein Softwarehaus und wollen auch keines werden. Aber wir haben unsere IT-Struktur im vergangenen Jahr grundlegend neu aufgestellt. Teile unserer früheren Core-IT haben wir in zwei Business-IT-Einheiten überführt: eine für Audit & Advisory und eine für Recht & Steuern. Dort arbeiten ausschließlich Fachleute – Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Anwälte – mit hoher IT-Affinität. Diese Einheiten nehmen Marktimpulse auf, testen neue Ansätze und treiben technische Entwicklungen gezielt voran.
Die da wären?
Ein konkretes Beispiel: Vor einigen Monaten haben wir begonnen, eine interne Anwendung zu entwickeln – als Schlagwort eine Art „ChatBT“ für unsere eigene Datenwelt. Solche Entwicklungen treiben wir auch mit externen Partnern voran. Im Steuerbereich arbeiten unter der Leitung von Thorsten Went inzwischen über zehn Personen daran. Im Legal-Bereich ist Bernhard Rehbein das Pendant. Diese Entwicklung ist für uns ein echter Quantensprung. Dafür steht unsere Business IT.
Fast die Hälfte meiner Woche verbringe ich mit IT-Themen.
Und Sie selbst sind auch fleißig am Prompten?
Ich selbst bin kein IT-ler, aber trotzdem bin ich überzeugt: Wer eine Business Line zukunftsfähig machen will, muss IT zur Chefsache machen. Das ist bei uns passiert. Inzwischen verbringe ich rund 40 Prozent meiner Woche mit IT-Themen. Das zeigt, welchen Stellenwert IT bei uns hat. Und ich habe nicht das Gefühl, dass wir hinterherhinken – im Gegenteil. Und zu Ihrer Frage: Ich prompte auch. Wir bewegen uns aber eher schon in die Richtung fast-tracking Gen AI preparing for Agentic AI. Diese Beschreibung ist übrigens nicht von mir.
Was bedeutet diese Entwicklung für Ihr Wachstum? Baker Tilly hatte zuletzt ein starkes Jahr – 14,2 Prozent Gesamtwachstum, über 11 Prozent in der Steuerberatung – also erstmalig mehr als 100 Millionen Euro Steuerumsatz. Auf der einen Seite erfordert Digitalisierung auch Investitionen. Auf der anderen Seite müssen Mandanten digitale Produkte auch erst einmal akzeptieren – vor allem aber auch bezahlen. Früher gab es den Stundensatz, der wird aber zunehmend obsolet. Wie sieht Ihre Perspektive aus?
Wir sind da schon mitten im Prozess. Wenn wir Leistungen bündeln, müssen wir auch die Gebührenstrukturen entsprechend anpassen. Das machen wir gemeinsam mit den Mandanten – transparent und partnerschaftlich. Der klassische Stundensatz existiert zwar noch, aber er verliert an Bedeutung. Stattdessen arbeiten wir verstärkt mit Paketpreisen, Öffnungsklauseln und flexiblen Modellen. Damit kommen wir sehr gut zurecht. Ein Beispiel ist unser Regensburger Büro: Wir haben mit „WW+KN“ Anfang 2024 eine hochprofitable Einheit integriert, die sehr effizient arbeitet. Solche Strukturen lassen sich in großen Organisationen schwer selbst entwickeln – dafür braucht es spezialisierte Einheiten aus denen man wertvolle Erkenntnisse auf den gesamten Bereich übertragen kann. Hier sind wir wieder beim Boutique-Ansatz.
Wer hier arbeitet, muss vom Konzept überzeugt sein.
Die Zahlen geben Ihnen recht. Zumindest ist auch die Produktivität gestiegen – der Umsatz pro Berufsträger um mehr als 10 Prozent.
Genau. Und wenn Sie sich unsere Struktur anschauen: Wir haben mehr erfahrene Mitarbeitende und weniger Associates. Das wirkt sich natürlich aus. Auch hier trägt das, was wir vor Jahren angefangen haben, deutlich Früchte.
Apropos: In letzter Zeit kamen noch einige erfahrene Berater dazu – etwa Matthias Groschupp für Umsatzsteuern oder Christian Jacob im Bereich Verrechnungspreise. Sind solche Zugänge Teil einer gezielten Strategie oder sind Sie da eher opportunistisch?
Grundsätzlich ist unser Vorgehen strategisch. Aber wenn sich eine gute Gelegenheit ergibt, schauen wir sie uns natürlich an. Wir analysieren zuerst, in welchen Themenfeldern wir uns verstärken wollen. Danach kommt eine etwaige regionale Perspektive. Das machen wir in enger Abstimmung gemeinsam in den Praxisgruppen. Zudem zahlen wir keine Kaufpreise für neue Partner oder Teams. Wer zu uns kommt, muss sich bewusst für unser Setup entscheiden, nicht wegen eines finanziellen Anreizes. Das passt nicht zu unserer Philosophie. Damit schließen wir manche Optionen aus, aber wir bieten gerade der jüngeren Generation eine starke Plattform mit echten Entwicklungsmöglichkeiten. Wir entwickeln gemeinsam Business Cases, unterstützen im Vertrieb und begleiten die Integration aktiv. Das ist unser Commitment. Und die Zahlen zeigen, dass dieser Ansatz funktioniert. Natürlich prüfen wir auch Opportunitäten – aber immer ohne Kaufpreis.
Und das gilt auch für die von Ihnen erwähnten Kollegen in Regensburg?
Ja, wir haben das Regensburger Büro inhaltlich überzeugt.
Wir setzen auf interne Entwicklung.
Wir haben bereits über Umsatzsteuern, Verrechnungspreise und Tax Technology gesprochen. Welche weiteren Wachstumsfelder sehen Sie für Baker Tilly im Steuerbereich?
Wir wollen unsere Leuchttürme weiter ausbauen und die Boutique-Idee gezielt entwickeln. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Bereich Real-Estate um Steffen Meining mit Michel Roes, der auf sehr hohem Niveau agiert. Wir müssen das Team verstärken, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen. Dafür sprechen wir gezielt junge Partner oder Talente unterhalb der Partnerebene an, die uns fachlich überzeugen. Gleichzeitig setzen wir stark auf interne Entwicklung – das ist oft einfacher, weil die Kolleginnen und Kollegen bereits bei uns sozialisiert sind. Unser Ziel ist es, die Bereiche gezielt auszubauen. Damit wächst auch der Umsatz.
Wo wollen Sie genau hin?
Wir haben klare Wachstumsziele. Was wir 2024 erreicht haben, ist nicht unser Endpunkt. Ein zweistelliges Wachstum pro Jahr sollte weiterhin die Regel werden. Das ist ambitioniert, aber realistisch. Die Anfragen, die wir aktuell erhalten, sind stark – und unser Vertriebskanal funktioniert ebenfalls sehr gut. Das ist ein gesunder Mix.
Der Markt steht insgesamt gut da – viele Wettbewerber hatten zuletzt ähnlich gut, oder sogar stärker performt als Baker Tilly. Aber viele Kanzleien berichten von Herausforderungen beim Recruiting. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Wir jammern auf sehr hohem Niveau. Natürlich hören wir intern auch immer wieder: „Wir brauchen mehr Leute.“ Aber Tatsache ist: Wir stellen regelmäßig neue Leute ein, auch Steuerberater. Es gibt Schwankungen, aber unterm Strich wachsen wir netto. Unser HR-Team unter Jens Hoeppe leistet hervorragende Arbeit. Mit über 30 Mitarbeitenden im HR-Bereich haben wir ein großes Team – nicht nur für Tax, sondern auch für Audit und Advisory sowie Legal. Trotz aller Technologisierung bleibt der Mensch für unser Business zentral.
Vergütung geht nur über Transparenz.
Sie sind also weniger pessimistisch.
Unsere Anforderungen an neue Mitarbeitende sind gestiegen – und das ist auch gut so. Wir suchen gezielt und nehmen uns auch die Zeit, die es braucht, um die richtigen Talente zu finden. Wir suchen und bekommen auch erfahrene Mitarbeiter, aber auch Juniors, und entwickeln alle Juniors mit unserer Academy weiter. Ein Punkt, den man zudem nicht unterschätzen darf, ist die Verweildauer. Je länger Mitarbeitende bei uns bleiben, desto besser– sowohl qualitativ als auch wirtschaftlich. Deshalb haben wir unsere Prozesse überarbeitet, angefangen beim Pre-Onboarding. Wenn jemand einen Vertrag unterschreibt, beginnt bei uns bereits die Integration – lange vor dem ersten Arbeitstag. Das schafft eine frühzeitigere und deutlich bessere Bindung.
Trotzdem hatte auch Baker Tilly mit Fluktuation zu kämpfen.
Eine gesunde Fluktuation gehört dazu. Aber wir haben es geschafft, die Verweildauer deutlich zu erhöhen. Und das bringt echten Mehrwert für alle Seiten.
Alle müssen heute mehr für den Nachwuchs tun – das ist nichts Neues. In unserer jährlichen Steuerexperten-Umfrage haben Sie insgesamt gut abgeschnitten. Ein Kritikpunkt, der aber häufiger genannt wird, auch bei anderen Kanzleien, ist die Intransparenz bei den Gehältern. Muss sich da Ihrer Meinung nach etwas ändern?
Man kann nicht über Gehalt sprechen, ohne auch über Leistung zu sprechen. In den letzten Jahren wurde das Thema Leistung oft in den Hintergrund gedrängt – dabei bildet sie immer das Fundament. In anderen Bereichen geht es darum, bewusst nach vorne zu denken. Homeoffice ist ein gutes Beispiel: Vor 2020 kaum denkbar, heute Standard – und bei uns schon lange flexibel geregelt. Aber wenn wir sehen, dass bestimmte Aufgaben im Team vor Ort besser funktionieren, entwickeln wir gemeinsam mit den Mitarbeitenden Lösungen und sprechen sehr transparent mit ihnen über die zu erbringenden Leistungen für unsere Mandanten. Das ist für mich auch eine wichtige Form von Transparenz.
Was hat das mit der Vergütung zu tun?
Wenn wir über Leistung sprechen, müssen wir auch über Vergütung sprechen – und das geht nur mit Transparenz. Wir sehen im Detail den Deckungsbeitrag pro Mitarbeitenden. Damit wissen wir genau, welchen wirtschaftlichen Beitrag jemand leistet und können daraus ableiten, was wir zahlen können. Das schafft eine ganz neue Gesprächsbasis.
Ist das in der Breite überhaupt darstellbar?
Wir schaffen Bandbreiten, die nachvollziehbar sind. Das ist keine Revolution, aber ein wichtiger Schritt.
Also ist die Kritik nicht berechtigt?
Unsere Mitarbeitenden wissen, was fakturiert wird, und sind oft in den Abrechnungsprozess eingebunden. Diese Leistung steht logischerweise in Verbindung zur Entlohnung. Und das geht logischerweise nur mit Transparenz. Für uns jedenfalls gilt: Wir schaffen mehr Transparenz und werden diese Entwicklung bewusst weiter vorantreiben.