Es schlägt die Stunde des Amateur-Recruitings, also der Personalgewinnung durch die eigenen Mitarbeitenden über deren Netzwerke – ob private Netzwerke zu ehemaligen Kommilitonen oder Ex-Kollegen oder berufliche Netzwerke in Form sozialer Medien wie Xing oder LinkedIn: Niemand kann authentischer über den eigenen Job und die eigene Abteilung sprechen als die Person, welche diesen Job in dieser Abteilung auch wirklich innehat.
Niemand ist glaubwürdiger als die eigenen Mitarbeitenden
Niemand ist im Zeitalter der Chatbots glaubwürdiger als Testimonial und Leumundszeuge als eine Person, die man selbst kennt, mit der man via LinkedIn vernetzt ist, deren Social Media-Feed man täglich liest und der man vielleicht schon bei einem Deal oder in einem Beraterteam gegenüberstand. Weil die eigenen Mitarbeitenden den eigenen Job und dessen Anforderungen am besten kennen, wird zudem die Passgenauigkeit der Kandidaten höher sein. Als Kandidat aus dem persönlichen Netzwerk wird man eine solche Person in ihren Bemühungen im Amateur-Recruiting auch nicht einfach im Regen stehen lassen und sich plötzlich und unvermittelt aus einem Bewerbungsprozess verabschieden. Auch ein werbender Mitarbeiter wird sich durch sein persönliches Recruiting nicht in die Nesseln setzen wollen, in dem er einen Wackelkandidaten vorschlägt, sondern wird stets nur ein sicheres Blatt spielen.
Authentizität, Commitment und Risikoaversion sprechen für Corporate Influencer als die neuen Recruiter
Anders als die professionellen internen oder externen Spieler, die als Recruiter oder Headhunter knallhart nach Anzahl der Ansprachen, Kennenlerngespräche und Vertragsunterschriften gemessen und gemonitort werden. Um bei Benchmarks nicht durchzufallen, bleibt den Profis in einem immer enger werdenden Markt häufig nur der Schritt ins Risiko. Die Amateure können dagegen auf Sicherheit spielen. Authentizität, Commitment und Risikoaversion sind daher Faktoren, die für das Amateur-Recruiting der eigenen Mitarbeitenden sprechen. Allerdings sind die größten Vorteile des Recruitings dieser Art auch seine größten Nachteile.
Schöne neue Recruitingwelt mit Schattenseiten: neutrale Objektivität und sachliche Verbindlichkeit fehlen
Die neutrale Objektivität und sachliche Verbindlichkeit klassischer Stellenanzeigen kann es nicht aufweisen. Denn hier handelt es sich eben nicht um sachlich-objektive Verbindlichkeiten in Bezug auf arbeitsvertragliche Inhalte. Das Laien-Commitment ist ja nur ein Verbindlichkeitsgefühl zwischen Personen. Diese persönliche Ebene kann zu problematischen Folgen führen: Zu wem ich als Person engere Verbindungen und Verpflichtungen einzugehen bereit bin, wen ich in mein persönliches Netzwerk aufnehme, spiegelt meine ganz persönlichen Vorlieben. Eine professionelle HR-Abteilung oder ein professioneller Headhunter werden stets unabhängig von persönlichen Vorstellungen, Vorurteilen oder Präferenzen auf jeden möglichen geeigneten Kandidaten oder Kandidatin zugehen – auch weil sie gesetzlich und vertraglich dazu verpflichtet sind. Ein persönliches Netzwerk baut man sich nicht anhand solcher Vorgaben auf, sondern man folgt hier – ganz natürlich – seinen eigenen Präferenzen.
Durch Laien-Recruiting werden persönlichen Vorstellungen, Vorurteile und Präferenzen Teil des Corporate Recruitings
Man muss sich also Folgendes klarmachen: Wenn in Zukunft die persönlichen Netzwerke der eigenen Mitarbeitenden das Fundament des Recruitings werden, dann werden mit diesen Netzwerken auch die persönlichen Vorstellungen, Vorurteile und Präferenzen der eigenen Mitarbeitenden zum Teil der Personalbeschaffung. Selbst wenn man lediglich unterstellt, dass es ganz natürlich sei, ein persönliches Netzwerk an Kontakten zu unterhalten, die einem selbst ähneln oder dem eigenen Selbstbild entsprechen, kann dies dem Ziel entgegenlaufen, die Diversität in Steuerpraxen zu steigern. Transparenz und Chancengleichheit in Sachen beruflicher Karriere, auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) abzielt, drohen so unterlaufen zu werden.
Probleme bei der Diversität
Besonders dann, wenn gerade die Gruppe an Mitarbeitenden, die sich als Hobby-Recruiter über die eigenen Netzwerke betätigt, selbst gar nicht divers aufgestellt ist. Denn nicht jeder kommt gleichermaßen auf die Idee zum Personalakquisitionszugpferd des eigenen Arbeitgebers zu werden. Extrovertierten Personen wird die Ansprache im eigenen Netzwerk leichter fallen als introvertierten. Jemand wortgewandtes wird das Schreiben eines LinkedIn-Posts leichter fallen als einem reinen Zahlen-Nerd. Die Heterogenität und Diversität, von denen eine Beratung lebt, spiegelt sich nicht unbedingt in der Gruppe der neuen privaten Recruiter. Der Trumpf Amateur-Recruiting hat eine weitere Kehrseite: ‚Authentisch‘ ist ein schillernder Begriff. Authentisch kann ein Mensch nur über seine eigenen persönlichen Erfahrungen sprechen. Diese lassen sich jedoch nicht auf andere übertragen. Eigene Erfahrungsberichte wirken gerade durch ihre Subjektivität. Was also ebenfalls im Recruiting durch Laien fehlt, ist die Warte eines objektiven Dritten. Ganz zu schweigen von der Warte eines kritischen Vierten.
Geglättete Selbstdarstellung im Sinne des Selbstmarketings
Marketing- oder PR-Abteilung müssen deshalb etwa private LinkedIn-Posts, die mit dem Zweck des Recruitings veröffentlicht werden, gar nicht zensieren, glätten oder zurechtbürsten. Solche Posts veröffentlicht in Sozialen Medien mit dem Ziel, das eigene Netzwerk für die Besetzung einer Stelle beim eigenen Arbeitgeber zu aktivieren, sowieso nur derjenige, der subjektiv voll und ganz hinter dem eigenen Arbeitgeber steht. Interne Kritiker werden dies eher nicht tun – weshalb die für jedes Unternehmen so wichtige Gruppe der kritischen Mitarbeiter sich über diesen Weg wohl nicht fortpflanzen und vermehren wird. Nicht kritisch sondern nahezu euphorisch fällt deshalb für gewöhnlich der Ton von Posts aus, mit denen Laien-Recruiter sich für ihren Arbeitgeber einsetzen. Posts, die Kollegen und Vorgesetzte gerne liken und teilen. So ist Amateur-Recruiting immer vor allem Selbstmarketing innerhalb der eigenen Organisation. Dieses Selbstmarketing ist dabei mehr als nur eine voyeuristische Zurschaustellung von Loyalität und Engagement.
Dieses Selbstmarketing verfolgt ein knallhartes eigenes Karriereziel: Es stellt die eigene Akquisitionsfähigkeit in Bezug auf die Ressource Personal unter Beweis. Eine Ressource, die drauf und dran ist, der Ressource Mandant den Rang abzulaufen. Wer Personal finden und binden kann, empfiehlt sich heute für Partnerrollen, die früher an denjenigen gingen, der Mandanten finden und binden konnte. ‚Authentisch‘ bedeutet im Amateur-Recruiting daher nicht, dass der werbende Mitarbeiter unbeachtet der eigenen Interessen handelt. ‚Authentisch‘ bedeutet, dass er diese Interessen gerade durch seine persönliche Recruiting-Tätigkeit verfolgt.
Wenn diese Interessen aber mit dem Inhalt dessen kollidieren, was ein objektiver Dritter oder gar kritischer Vierter zu der jeweiligen Position, Fachgebiet oder Beratung beizutragen hätte, dann muss man kein Hellseher sein, um vorauszusagen, was am Ende vermittelt und transportiert wird. Im Amateur-Recruiting stehen den Vorteilen Authentizität, Commitment und Risikoaversion also die Nachteile Subjektivität, persönliche Präferenzen und individuelle Interessen gegenüber. In dem Maße, in dem das Recruiting im Tax die konventionellen Wege der Recruiting-Profis verlässt, handelt sich die Branche nicht nur die Vorteile des Amateur-Recruitings ein – sondern auch dessen Nachteile.
Diesen und weitere Artikel zum Thema Recruiting finden Sie auch in der aktuellen JUVE-Sonderausgabe Karriere Steuern 2024.