Lisa Paus ist Sprecherin für Finanzpolitik sowie Leiterin der AG Finanzen der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen und damit auch für steuerpolitische Themen zuständig. 2009 zog sie das erste Mal für ihre Partei in den Bundestag ein. In ihrer Funktion macht sich Paus schon länger für die Anzeigepflicht stark.
JUVE Steuermarkt: Wieso sind die Grünen für eine Anzeigepflicht bei Steuergestaltungsmodellen?
Lisa Paus: Die Anzeigepflicht fordern wir Grüne in der Tat schon seit Jahren. Wir haben eine extrem komplizierte und gestaltungsanfällige Steuergesetzgebung in Deutschland und die Anzeigepflicht könnte hier mehr Transparenz und Rechtssicherheit für alle Beteiligten schaffen. Zum anderen sind Steuergesetze nie perfekt. Und die Ausnutzung von Reglungslücken, die so vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt waren, sollten frühestmöglich identifiziert und erkannt werden.
Wieso ist das überhaupt wichtig?
Zwischen der Verabschiedung eines Gesetzes und der Aufdeckung einer Steuergestaltung im Rahmen einer Betriebsprüfung vergehen in der Regel mehrere Jahre. In dieser Zeit können wir als Gesetzgeber nicht reagieren. Es kann zu Steuergestaltungen kommen, die zwar legal sind, die aber nicht der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers entsprechen. Ein nicht beabsichtigter Steuervorteil ist aber ungerecht. Eine rückwirkend geltende Regelung bleibt dem Gesetzgeber dennoch versagt. So entgeht dem Fiskus viel Geld. Dieser Hase-Igel-Wettlauf sollte endlich ein Ende haben.
Die Verbände und Kammern lehnen das Konzept der Anzeigepflicht ab: Eine Meldepflicht vertrage sich nicht mit der Stellung des Steuerberaters als unabhängigem Organ. Zudem machten sich Anwälte und Steuerberater zu Erfüllungsgehilfen der Behörden. Sollte die Politik nicht Gesetzeslücken selbstständig erkennen und schließen?
Natürlich sind wir Politiker dafür da, Gesetze zu machen und wenn nötig auch anzupassen. Um etwas zu ändern, müssen wir aber auch frühzeitig wissen, dass es Anpassungsbedarf gibt. Noch mal, Gesetze sind nie perfekt, es ist unmöglich, die Folgen eines Gesetzes bis ins kleinste Detail vorherzusagen. Gleichzeitig hat die Politik die Verpflichtung, den Grundsatz der Gleichheit der Besteuerung zu wahren. Und dieser ist in diesem Land – und auch auf europäischer Ebene – in vielen Fällen schlicht nicht gegeben. Durch raffinierte Gestaltungsmodelle haben einige wenige Steuerpflichtige die Möglichkeit, ihre Steuern erheblich zulasten der Allgemeinheit zu drücken. Die Unterschiede in der Besteuerung und die Steuerausfälle sind zum Teil immens. Das gesellschaftliche Ziel sollte aber eine faire und gleichmäßige Besteuerung sein – im Interesse aller.
Und das Mandatsgeheimnis? In Deutschland ist das Verhältnis zwischen Mandanten und Berater geschützt. Und nun sollen Steuerberater aus Sicht der Kammern und Verbände ihre Mandanten beim Fiskus verpfeifen.
Das ist schlicht falsch. Es geht in diesem Punkt nicht um Geheimnisverrat. Es sollen eben keine Informationen über einzelne Mandanten an die Behörden weitergeleitet werden. Gemeldet werden müssten vor allem die Modelle, die die Berater entwickeln, ausbauen und dann mehreren Mandanten anbieten. Das Vertrauensverhältnis zwischen Berater und Mandant bleibt damit geschützt. Wenn wie in Deutschland das Berater-Mandanten-Verhältnis besonders geschützt ist, dann geht die Anzeigepflicht auf den Steuerpflichtigen über. Der Mandant, nicht der Steuerberater, zeigt dann an.
Wird die Anzeigepflicht auf den Steuerpflichtigen übertragen, kann dieser doch seinen Berater in Haftung nehmen, falls er nicht von diesem aufgeklärt wird. Ist der Berater damit nicht letztlich immer der Dumme?
Die Haftungsfrage ist ein wichtiger Punkt, und es ist richtig das zu diskutieren. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass es die ureigene Aufgabe der Steuerberater ist, ihre Mandanten auf ihre steuerlichen Pflichten hinzuweisen. Das gilt bereits in vielen anderen Bereichen. Im Rahmen des in 2017 verabschiedeten Steuerumgehungsbekämpfungsgesetzes wurden zum Beispiel neue Meldepflichten zur Bekämpfung von Briefkastenfirmen beschlossen. Auch über diese muss der Steuerberater seine Mandanten selbstverständlich aufklären. Damit sind die Fragen rund um die Anzeigepflicht für Steuergestaltungen nichts Neues, sondern genauso wie alle anderen steuerlichen Pflichten zu sehen. Eine Haftung bei Fehlberatung kann kein Argument gegen die Anzeigepflicht an sich sein. Wichtig ist, dass die Steuerberater wissen, was anzeigt werden muss. Die Kriterien für die anzuzeigenden Gestaltungen müssen deshalb ausreichend klar bestimmt sein. Hier enthält die EU-Richtlinie sinnvolle Vorschläge.
Auch in der Wissenschaft regt sich massiver Widerstand. Die Kölner Professorin Johanna Hey spricht in ihrem Gutachten von „verfassungsrechtlichen Problemen“. Wollen Sie jetzt das Grundgesetz ändern?
Ich schätze Frau Hey sehr. Aber das Gutachten überzeugt mich nicht. Ich will dazu einige Beispiele aus dem Papier aufgreifen. Wie bereits erwähnt, werden wir mit der Anzeigepflicht nicht in das geschützte Vertrauensverhältnis von Berater und Mandant eingreifen. Und auch was das Bestimmtheitsgebot angeht, sehe ich es etwas anders. Denn es muss letztlich eben nicht jede noch so kleine Steuergestaltung gemeldet werden. Es geht vor allem um Modelle, die einmal entwickelt und an eine Vielzahl von Nutzern verkauft werden können. Übrigens folgt auch die Bundesregierung der Argumentation des Gutachtens nicht.
In der Diskussion um die Anzeigepflicht – besonders im Zusammenhang mit nationalen Gestaltungen – ist immer wieder von „aggressiven Modellen“ die Rede? Aber ab wann ist ein Modell eigentlich aggressiv?
Ich will ein Beispiel geben: die sogenannten Share-Deals. Hier werden Immobilien in Gesellschaften übertragen und teils steuerfrei weiterverkauft. Und häufig ist das der einzige Zweck einer solchen Konstruktion: sich die Grunderwerbsteuer zu sparen. So etwas sollte schlicht unterbunden werden. Es gibt Berechnungen, wonach eine Gestaltung mittels Share-Deals sich erst ab einem Immobilienwert von rund 30 Millionen Euro lohnen soll. Damit kommt diese Möglichkeit nur für ganz wenige in Betracht. Dies veranschaulicht sehr schön den Ausgangspunkt für die Überlegungen eine Anzeigepflicht einzuführen: Die Gestaltungen und Modelle, um die es geht, können sich häufig nur einige wenige leisten, damit sind sie ungerecht. Bei all dem reden wir eben nicht über das Gros der Steuerpflichtigen, sondern nur über eine kleine Anzahl. Uns geht es vor allem darum, die Steuergestaltungsindustrie einzudämmen, die gezielt versucht, vom Gesetzgeber ungewollte Lücken auszunutzen.
Häufig ist Cum-Ex das Paradebeispiel der Politik für „aggressive Modelle“. Oder die vermeintliche Steuerflucht der großen US-Digitalkonzerne. Die Anzeigepflicht – europäisch und national – beträfe aber doch auch den deutschen Mittelstand. Nehmen Sie hier nicht die Falschen in Sippenhaft?
Genau für diese Unternehmen ist die Anzeigepflicht nicht gedacht, sondern für das Top-Ein-Prozent der Steuerpflichtigen. Oftmals ist es ja gerade der Mittelstand, der unter der ungleichen Besteuerung leidet. Es kommt zu massiven Wettbewerbsverzerrungen, wenn internationale Konzerne nicht ihren fairen Anteil zum Gemeinwohl leisten und so künstlich unter Marktpreis anbieten können. Was die Einordnung einzelner Modelle angeht, sind in der EU-Richtlinie dezidierte Kennzeichen aufgezählt, die definieren, welche Modelle gemeldet werden müssen und welche nicht. An den Vorgaben der EU-Richtlinie werden wir uns auch auf nationaler Ebene orientieren müssen.
Der Kennzeichenkatalog der EU umfasst unter anderem den sogenannten „Main Benefit“, also allgemein die Erlangung eines Steuervorteils, künstliche Gestaltungen, um die Steuerbelastung zu verringern sowie Modelle bei grenzüberschreitenden Transaktionen. Aber decken die Kennzeichen denn wirklich alles ab?
Nein, es handelt sich tatsächlich um eine Momentaufnahme. In einigen Jahren werden wir sicherlich auch Lücken bei den Kennzeichen finden, so dass der Kennzeichenkatalog dann angepasst werden sollte.
Trotz oder gerade wegen dieser Kriterien könnte es zu Unklarheiten kommen. Steuerberater sind ja gerade dazu da, Lücken zu finden, um die Steuerlast ihrer Mandanten zu minimieren. Wenn eine Gestaltung nun nicht unter die genannten Kriterien fällt, müsste diese also nicht gemeldet werden.
Es ist in der Tat so, dass wir nicht wissen, welche Arten von Modellen es gibt. Genau das wollen wir mit der Anzeigepflicht ja herausfinden, um schnell reagieren zu können. Denn auch wir als Gesetzgeber haben natürlich die Verpflichtung, schnell für Rechtssicherheit zu sorgen. Das war im Cum-Ex-Fall zum Beispiel nicht möglich. Dort wurde viel zu spät gehandelt. Besser ist es also, lieber einmal mehr anzuzeigen als weniger.
Müsste der Kriterienkatalog dann nicht um viele Gestaltungen erweitert werden? Und am Ende müsste doch jede Gestaltung, so klein und trivial sie sein mag, gemeldet werden. Können Steuerberater ihren Beruf so überhaupt noch vernünftig ausüben?
Dieses Argument ist an den Haaren herbeigezogen. Hier schaffen die Verbände und Kammern ganz bewusst ein Zerrbild der Anzeigepflicht. Es geht nicht darum, einzelne Menschen oder Steuerberater zu drangsalieren. Es geht um missbräuchliche Steuersparmodelle, die dem Staat Einnahmeverluste in Milliardenhöhe bescheren. Ich will eine Analogie aus dem Gesundheitsbereich bemühen: Häufig ist es so, dass Arzneimittel auf den Markt kommen, und man erst weiß, wie diese wirken, wenn sie großflächig zum Einsatz kommen. Gibt es schädliche Nebenwirkungen, ist es selbstverständlich, dass Ärzte dies auch den Behörden melden müssen. Ähnlich verhält es sich mit den aggressiven Steuergestaltungsmodellen. Diese sind schädlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Wirtschaft. Es geht nicht um Staat gegen Wirtschaft, sondern um einen fairen Wettbewerb für alle. Wenn das kleine Café ordentlich seine Steuern bezahlt, Starbucks aber nicht, dann ist das schlicht und ergreifend nicht fair.
Wären nicht auch die Ämter und Behörden maßlos überfordert, wenn nahezu alles gemeldet werden muss?
Ich halte die Kriterien der EU-Richtlinie für zu meldende Gestaltungen für einen sinnvollen Vorschlag. Wir werden selbstverständlich bei der Umsetzung der Richtlinie darauf achten, dass nicht alles gemeldet werden muss. Mit sinnvollen Kriterien lässt sich der Personalaufwand deutlich begrenzen. Sie haben Recht, wir haben jetzt schon eine erhebliche Unterbesetzung in den Finanzbehörden. Auch unabhängig von der Einführung der Anzeigepflicht wäre es wichtig, hier noch einmal das Personal gezielt aufzustocken. Das fordern wir Grüne nun auch schon seit Jahren.
Der Präsident der Bundessteuerberaterkammer, Raoul Riedlinger, ist der Auffassung, die zeitnahe Betriebsprüfung sowie der internationale Informationsaustausch seien die effektiveren Instrumente. Wozu braucht es dann überhaupt eine Anzeigepflicht? Die Anzeigepflicht ist ein weiterer wichtiger Baustein, um Steuermissbrauch vorzubeugen. Das eine Wundermittel gibt es nicht. Generell wäre ich sehr für zeitnahe Betriebsprüfungen, aber die finden zu spät statt. Bei den Betriebsprüfungen geht schlicht und ergreifend zu viel Zeit ins Land, bis Modelle als solche identifiziert werden. Zu diesem Zeitpunkt werden die Modelle bereits seit Jahren legal genutzt. Gerade weil in Deutschland Steuergesetze nicht rückwirkend geändert werden können, kann es das nicht sein. Insgesamt sind wir bei Fragen des internationalen Informationsaustausches einige Schritte vorangekommen. Die legalen Steuervermeidungsmodelle sind aber davon nicht ausreichend abgedeckt. Es gibt daher gute Gründe, warum auch die OECD die Anzeigepflicht in ihren BEPS-Aktionspunkten als wichtigen Baustein empfohlen hat.
Die Bund-Länder-Gruppe ist ja bereits dabei, die europäische Richtlinie auf nationaler Ebene zu ergänzen. Sie behält sich dabei auch vor, neben Ertragsteuern unter anderem Erbschaft- und Schenkungssteuern einzubeziehen. Damit geht sie ja zum Teil noch ein ganzes Stück weiter.
Das ist auch richtig so. Kaum ein Bereich ist für Steuergestaltungsmodelle so anfällig wie die Erbschaftsteuer. Hier findet eine Überprivilegierung einer extrem kleinen Gruppe statt. Und das deutsche Erbschaftsteuergesetz ist auch nach seiner Reform noch immer verfassungswidrig – davon bin ich jedenfalls überzeugt. Auch bei der Erbschaftsteuer gibt es Möglichkeiten der Gestaltung. Eine Anzeigepflicht könnte auch hier für mehr Steuergerechtigkeit sorgen.
Lesen Sie auch den zweiten Teil des Interviews „Das Gesetz wird Misstrauen schüren“ mit Prof. Dr. Roman Seer.