Welchen Stellenwert ein Thema in der Beratung hat, kann man anhand seiner organisatorischen und personellen Abbildung ablesen. Wird ein Thema ausgelagert und outgesourct von der Beratung, bedeutet dies zweierlei: Man hat die interne Kompetenz nicht dazu, zugleich kann man es aber auch nicht lassen. So wichtig, dass man dafür interne Kompetenz aufbauen würde, ist es allerdings auch nicht. Lange Zeit galt diese Faustregel für die Bereiche Umsatzsteuer, Zoll und Verrechnungspreise. Wird ein Thema irgendwo intern von irgendwem irgendwie mitgemacht, dann hat man als Beratungsgesellschaft das Gefühl, dass man es zwar im Portfolio ausweisen muss – aber auch glaubt, damit kein Geld verdienen zu können.
Wenn man als Beratungsgesellschaft aber extra für ein Thema zentrale Spitzenpositionen mit übergreifender Verantwortlichkeit schafft, dann bedeutet dies etwas. Anhand des Auf und Ab solcher Spitzenpositionen kann man die Entwicklungshistorie eines Themas nachzeichnen. Dass André Hengst nun bei EY eine zentrale Führungsposition für den Bereich Tax Technology erhält, hat daher mehr als nur rein administrative Bedeutung. Das Gleiche gilt für Michel Braun und das Thema KI bei WTS.
EY hatte schon einmal eine zentrale Tax-Tech-Führung
2017 hat EY schon einmal eine technologische Spitzenposition geschaffen. Der ehemalige KPMG-Berater Ralph Doll wurde Leiter des deutschen Zweigs des neu eingerichteten Bereichs Tax Technology & Transformation, für den weltweit mehr als 1.000 Spezialisten zusammengezogen wurden. Die Abteilung umfasste in Deutschland damals über 130 feste Mitarbeitende, darunter 8 Partner.
Doll war seinerzeit der vielleicht bekannteste Experte für die technologische Transformation von Steuerabteilungen in Deutschland. Er hatte diesem Bereich jahrelang bei KPMG vorgestanden, ehe er 2016 zu EY ging. Doll repräsentierte bei KPMG maßgeblich die Entwicklung der Digitallösung Tax One, mit der die Big-Four-Gesellschaft einige Jahre eine Vorreiterstellung am Markt innehatte. Allerdings hatte sich KPMG entschlossen, die Weiterentwicklung von Tax One einzustellen.
Ein Grund dafür, dass sich KPMG von Tax One verabschiedete, lag laut Branchenbeobachtern an der holistischen Strukturschwäche des Grundkonzepts. Dazu muss man etwas ausholen in die Architektur solcher Informationssysteme. Seit den 1970er Jahren mit dem Siegeszug von SAP, IBM und Oracle lag die technologische Hegemonie für Informationssysteme bei relationalen Datenbanken. Damit sind Tabellenstrukturen gemeint, in denen einzelne Zeilen miteinander verknüpft werden, entweder als 1:1-, 1:n- oder n:n-Beziehungen. Daher der Name ‚relationale‘ Datenbanken. Daten, deren Beziehungen nicht vorher definiert wurden oder werden konnten, waren nicht verarbeitbar. Daten, deren Beziehungen sich wandelten, waren ebenso nahezu unverarbeitbar.
Ein Hemmschuh für Großlösungen
Welche Blüten relationale Datenbankstrukturen treiben können, kennt jeder von uns in Form von unternehmenseigenen ERP-Systemen, die mit zunehmender Komplexität unter dem Zwang, solche Beziehungen extra zu schaffen, immer größer und unhandlicher wurden. Auch, weil Beziehungen häufig extra künstlich erzwungen werden. Wer sich einmal gefragt hat, warum man bei der Anlage eines einfachen Datensatzes Dutzende von Menüs ausfüllen muss, findet hier die Antwort – weil man Beziehungen definieren und angeben muss.
Irgendwann drohten solche relationale Systeme zu groß zu werden, als dass man sie noch handhaben könnte. Diese Drohkulisse markierte das Ende von Tax One und triggerte die Bewegung in die Gegenrichtung: Tax Technology verabschiedete sich von den Großsystemen und wurde zurück delegiert in simple, kleine Einzellösungen für bestimmte Steuerprobleme. In diesem Zug wanderten die Tax-Tech-Experten zurück in die Service Lines, um unmittelbarer und direkter an diesen Einzelproblemen arbeiten zu können. Für eine zentrale Tax-Technology-Abteilung mit einer Spitzenposition gab es keinen Bedarf mehr.
Bei KPMG führte diese Entwicklung zu einer Doppelabbildung: Christian Stender kümmert sich zusammen mit Stephan Ludwig um die zentrale Entwicklung von Tax Technology, zusätzlich arbeiten Tax-Tech-Experten in den Service Lines. Auch die Next-Six-Gesellschaft Grant Thornton (GT) vollzog eine ähnliche Bewegung. Zum Oktober 2023 wechselte die bisherige Leiterin des Bereichs Tax Technology, Sophia Weber, zu PricewaterhouseCoopers (PwC) in Düsseldorf. Ihre zentrale Position wurde so nicht nachbesetzt; stattdessen verlagerte GT Tax Tech in die Fachbereiche.
Vor zwei Jahren verlagerte EY Tax Tech zurück in die Service Lines
Anfang 2022 hatte EY bekannt gegeben, die Berater des Tax Transformation & Technology-Teams (kurz: TTT) in die Sub-Service-Lines zu integrieren. Es werde bei EY künftig – zumindest in Deutschland – zum Beispiel Tech-Experten geben, die sich dem Konzern- oder Umsatzsteuerteam anschließen. Aber eben keine unabhängige zentrale Abteilung mit unabhängiger zentraler Führungsspitze mehr.
Ralph Doll wechselte und schloss sich der jungen Bonner Beratungsboutique Greenfield um Stephanie Henseler und Andreas Homrighausen an. Dolls Nachfolger als federführende Persönlichkeit in Sachen Tax Technology bei EY wurde just André Hengst, der gleichzeitig deutschlandweit die Umsatzsteuerpraxis der Beratungsgesellschaft leitete. Hengst stand daher als Person genau für dieses Konzept: Rückübertragung der Technikkompetenz in die einzelnen Service Lines, um durch kleinere Lösungen schlagkräftiger zu werden.
Großlösungen verdanken ihre Renaissance den Möglichkeiten von KI
Dass nun ausgerechnet Hengst wieder eine übergeordnete zentrale technologische Spitzenposition zukommt, die es seit Dolls Abgang nicht mehr bei EY gab, ist der Entwicklung in Sachen KI in dieser Zeit zu verdanken. Denn KI kann die Schwachpunkte übergroßer holistischer, relationaler Datenbanksysteme lösen. Durch Machine Learning, Expertensysteme und Large Language Models kann KI Beziehungen und Muster selbst finden und erlernen, wo und wie man nach solchen suchen muss. Beziehungen müssen nicht vorab umständlich definiert werden. Entwickler müssen sich nicht mehr verheddern im Geflecht von 1:1, 1:n oder n:n.
Dadurch gibt KI die Flexibilität, die es wieder möglich macht, größere Systeme zu entwickeln. EYs Anwendung Digital Tax Intelligence, die unter Federführung von Hengst entwickelt wurde (JUVE Steuermarkt berichtete), gibt für den Bereich der Umsatzsteuer einen Vorgeschmack darauf. „Die Software Digital Tax Intelligence und der AI-Chatbot ‚Dottie‘ verwandeln das Umsatzsteuermanagement von einer komplexen und zeitintensiven Aufgabe in ein einfaches und intuitives Unterfangen“, sagt etwa der Head of Group Tax von Mast-Jägermeister, Sebastian Siedler.
KPMG setzt auf eine ganz ähnliche Anwendung. Mitte März gab der EY-Konkurrent bekannt, seine Digital-Gateway-for-Tax-Plattform durch die Integration von generativer KI als unabhängige Komponente zu erweitern, um direkt mit Daten kommunizieren zu können und die Effizienz zu erhöhen. Die Stärke der Digital-Gateway-for-Tax-Plattform liegt neben ihren Inhalten in der Fähigkeit zur transparenten Datenanreicherung.
Die Lösung ermöglicht es Kunden, das Digital Gateway als ihr Wissenszentrum zu nutzen, wo Benutzer über die einheitliche Plattform auf unternehmensspezifische Dokumente zugreifen können. Dabei wird die Technik der Retrieval Augmented Generation (RAG) eingesetzt. Diese Technik optimiert die Antworten eines Large Language Models, indem sie auf eine maßgebliche Wissensbasis außerhalb der Trainingsdatenquellen verweist, bevor eine Antwort generiert wird. Eine ähnliche Systematik verwendet Taxy.io bei seiner Anwendung Otto Schmidt Answers oder WTS und PSP bei ihrem AI-Playground.
Diese Technologie befeuert die Renaissance zentraler Tax-Tech-Abteilungen und entsprechender Spitzenpositionen. Eine Beschränkung auf singuläre Einzellösungen wie etwas zu BEPS oder der Grundsteuer ist nun nicht mehr nötig.
Auch WTS hatte 2018 schon einmal eine zentrale Führungsperson in Sachen KI
Auch die Position von Michel Braun bei WTS hat einen Vorläufer. Genauer gesagt eine Vorläuferin: Das heutige Vorstandsmitglied im Bundesverband KI, Dr. Vanessa Just, leitete 2018 das KI-Projekt von WTS und war Geschäftsführerin der WTS AI. Zusammen mit Audi, Bosch, E.on, Henkel und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz wurden Prototypen entwickelt, um intelligente Steuerlösungen zu erschaffen. Damals standen aber noch nicht die heutigen Möglichkeiten in Sachen Machine Learning oder Expertenmodelle zur Verfügung. Generative KI war noch in den Kinderschuhen.
Just verließ im Herbst 2021 die WTS. Braun wechselte im Frühjahr 2022 von KPMG zu WTS – dort war er zuletzt Head of Transfer Pricing Technology & Innovation. In der neu geschaffenen Funktion des Chief AI Officer trägt Braun nun die Verantwortung für die Entwicklung der konzernweiten KI-Strategie von WTS. Zum Jahreswechsel firmierte Justs ehemalige Firma WTS AI um in WTS PSP AI GmbH. Die Gesellschaft, die nun unter anderem in Zusammenarbeit mit Aleph Alpha den AI Playground herausbringt. So ist der Personalreigen zwischen zwei Tech-Generationen komplett.