Steuerlehre

Empirische versus normative Steuerlehre: „Einen Konflikt in der Forschung sehe ich nicht“

Autor/en
  • Götz Kümmerle

Es gibt eine Kontroverse um die richtige Ausrichtung der betriebswirtschaftlichen Steuerwissenschaften. Beratungsgesellschaften und auch manche Professoren kritisieren den Siegeszug empirisch-statistischer Methoden. JUVE Steuermarkt sprach dazu mit Professor Dr. Michael Overesch – einem empirisch forschenden Steuerwissenschaftler.

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Vor zehn Jahren gingen Saarbrücker Steuerprofessoren mit dem „Saarbrücker Plädoyer für eine normative theorie- und praxisbezogene Betriebswirtschaftslehre“ auf die Barrikaden. Empirisch-statistische Methoden verstellten den Blick auf das Wesentliche in den Steuerwissenschaften, nämlich den kritischen Umgang mit Regelungen und Gesetzen, so die damalige Kritik der Professoren. Eine Ansicht, die auch häufig in Beratungsunternehmen geteilt wird. Dennoch scheint der Siegeszug der Empirie ungebrochen. Aber was hat es genau mit der empirisch-statistischen Methodik auf sich? JUVE Steuermarkt hat dazu mit einem der profiliertesten Vertreter dieser Methode in den Steuerwissenschaften gesprochen: Professor Dr. Michael Overesch vom Seminar für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensbesteuerung an der Universität zu Köln.

Professor Dr. Michael Overesch

JUVE Steuermarkt: Professor Overesch, was hat es mit der Kampflinie normative Steuerlehre versus empirische Steuerlehre auf sich? 
Professor Overesch: Den Begriff ‚Kampflinie‘ weise ich direkt zurück. Wir haben eine Entwicklung in der Forschungsausrichtung im Bereich Rechnungswesen und Steuern, die dahin geht, dass empirische Forschungsmethoden großen Raum einnehmen. Das ordnet sich ein in die Forschungslandschaft der Wirtschaftswissenschaften, die insgesamt sehr verhaltensforschungsorientiert ist. International sind Forschungsaktivitäten zunehmend empirisch ausgerichtet. Das hat zur Konsequenz, dass junge Nachwuchswissenschaftler, wenn sie international sichtbar sein und in der Universitätslandschaft Karriere machen wollen, häufig zu empirischen Methoden greifen.

Also wendet die Steuerlehre zunehmend empirische Methoden an?
Es kommt drauf an. Von der empirischen Forschung muss man die Lehre ganz klar abgrenzen. In der Lehre ist es weiterhin sehr wichtig, die steuerlichen Regeln und die der Rechnungslegung en détail zu vermitteln. Das ist das Rüstzeug für die Studierenden, um in der Praxis reüssieren zu können. Ansonsten kämen wir als Universitäten unserer Ausbildungsfunktion nicht nach. Dieses steuerrechtliche Detailwissen ist aber auch in der Forschung sehr wichtig. Denn es kommt bei empirischen Untersuchungen sehr wohl auf das institutionelle Detail an, das in der empirischen Forschung auf seine Wirksamkeit hin überprüft wird.

Wie sieht eine solche empirische Methode konkret aus?
Ein Beispiel ist die steuerliche Transparenz. Das ist ein Megatrend der letzten Jahre. Das Country-by-Country-Reporting als Detailtransparenz gegenüber der Finanzverwaltung etwa; aber auch die Diskussion, ob diese Reportings der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Uns als empirisch ausgerichtete Forscher interessiert bei diesem Thema, wie eine solche Regulierung sich auswirkt. Man kann sich die Frage stellen, ob die Steuervermeidungsaktivitäten von Unternehmen zurückgehen, weil durch die steigende Transparenz für Spitzenmanger Reputationseffekte bei Entscheidungen über die Steuerplanung zunehmend eine Rolle spielen. Ganz konkret habe ich eine Doktorarbeit begleitet, die das ganz frühe Country-by-Country-Reporting für multinationale Banken in Europa betrachtet hat. Der Doktorand hat sich dabei das Steuerplanungs- und -vermeidungsverhalten der in Europa von der Pflicht zum Country-by-Country-Reporting betroffenen Banken angesehen. Er hat es in Relation zum Verhalten der Banken vor Einführung der Pflicht und auch in Relation zu Unternehmen gesetzt, die nicht von dieser Transparenzregulierung betroffen waren wie zum Beispiel amerikanische Banken oder Versicherungsunternehmen. Die Hypothese war dabei, dass die betroffenen Banken sich in ihrem steuerlichen Planungsverhalten nach Einführung des öffentlichen Country-by-Country-Reporting anders verhalten.  Die empirischen Befunde haben dann aber gezeigt, dass sich eine Veränderung des Steuerplanungsverhaltens nur für wenige Banken zeigt, nämlich bei solchen, die sehr im Fokus stehen, weil sie zum Beispiel stark in Steueroasen engagiert sind.

Welche Art von Daten nutzen Sie, um Ihre Hypothesen statistisch zu überprüfen? 
Solche Daten können Rechnungslegungsdaten sein, aber auch Finanzmarktdaten. Um das tatsächliche Verhalten von Unternehmen zu erfassen, kann man aber auch ganz andere Daten nutzen. So haben wir uns in einem anderen Fall angeschaut, wo internationale Unternehmen ihre Markenrechte registrieren. Wir wollten wissen, welche Rolle IP-Gesellschaften in Konzernverbünden spielen und welche Relevanz die Steuersätze am Standort der IP-Gesellschaften haben. Anhand der Daten des Europäischen Markenregisters konnten wir Fälle nachvollziehen wie Ikea, das seine Markenrechte in den Niederlanden mit Hilfe einer schwedischen Anwaltskanzlei registriert. Andere Unternehmen jedoch wie Henkel fahren dagegen völlig andere Strategien. Henkel hat fast alle seine Markenrechte in Düsseldorf registriert. Dadurch konnten wir Schlüsse ableiten zur Relevanz von Steuersätzen und anderer Faktoren bei der Standortwahl für IP-Gesellschaften bzw. dem Registrierungsort von IP-Rechten, aber auch über Unternehmensstrategien.

Braucht es dazu überhaupt Steuerkenntnisse?
Es ist faktisch eine positive, deskriptive Forschungsmethodik, um festzustellen, was man vorfindet. Nichtdestotrotz benötigt man dafür genaue Detailkenntnisse des Steuerrechts. Wenn Sie Zentralisierungs- oder Dezentralisierungsstrategien von IP-Rechten betrachten, benötigen Sie ein gutes Verständnis der mit IP-Rechten korrespondierenden steuerlichen Regelungen. Sie müssen identifizieren können, wo das Steuerrecht etwaige Anreize setzt, um überhaupt eine Untersuchungshypothese formulieren zu können. Es hilft nichts, nur zu beschreiben, was Ikea mit den IP-Rechten tut. Man muss es auch einordnen können. Erst dann kann man daraus auch Empfehlungen geben.

An wen richten sich die Empfehlungen?
Die eine Gruppe von  Adressaten sind Manager von Unternehmen. Der andere Adressat ist der Gesetzgeber, der durch solche Untersuchungen und Forschungen lernen kann, wie seine steuerliche Gesetzgebung wirkt.

Politikberatung ist also auch ein Ziel?
Selbstverständlich! Diese Erkenntnisse sind aber auch wichtig für die Ausbildung des steuerlichen Nachwuchses, um zu beleuchten, was am Ende umsetzbar ist. Der Steuerberater muss schließlich nicht nur die rein steuerliche Umsetzung seiner Ideen beachten, sondern diese auch in den jeweiligen unternehmerischen Kontext und vielleicht sogar in den gesellschaftlichen Kontext setzen können. Es ist richtig, dass die bisherige Steuerforschung und -lehre sich sehr intensiv mit der genauen Auslegung des Steuerrechts befasst hat. Das ist jedoch in einem größeren Kontext zu sehen. Denn man sollte als Steuerberater auch beachten, wie sich eine legale Maßnahme in der Wahrnehmung nach außen auswirkt. Denn nicht alles, was legal ist, betrachten andere auch als legitim. Einen Konflikt in der Forschung sehe ich daher nicht. Die empirischen Methoden eignen sich gerade auch, um über das reine Steuerrecht hinausgehende Fragestellungen etwas anders zu beleuchten.

Hat die empirische Analyse durch staatliche Regulierungen rund um die Klimawende an Bedeutung gewonnen? 
Um die Auswirkungen von neuen Regulierungen zu verstehen, ist Forschung immer hilfreich. Ich weiß aber gar nicht, ob dies nun besonders für die jüngste Zeit zutrifft. Denn viele anders gelagerte steuerliche Institutionen sind irgendwann als Innovationen gestartet.

Können Sie uns Beispiele nennen?
Nehmen wir die Zinsschranke oder die Ursprünge der Hinzurechungsbesteuerung. Diese sind auch vor einigen Dekaden als Innovationen des internationalen Steuerrechts hinzugekommen. Wie sie sich auswirken, war damals ebenfalls von großem Interesse. Jetzt kommen eben neue Themen hinzu. Allerdings sind die ersten wissenschaftlichen Antworten auf Neuerungen gerade nicht empirischer Natur. Denn eine empirische Forschung ist erst dann möglich, wenn zumindest die ersten Arten dieser Innovationen bereits umgesetzt wurden. Es sei denn, man nutzt Experimente. In solchen Fällen würde man eine geplante neue Regelung konstruieren und mit ausgewählten Akteuren im Labor simulieren.

Haben Sie ein Beispiel für ein solches Experiment?
Ein Beispiel bei uns war ein Experiment zur Untersuchung des Deklarationsverhalten von Privatpersonen. Im Trend sind ja vorausgefüllte Steuererklärungen. Diese sind beispielsweise bereits mit den Vorjahreswerten bestückt oder schon durch Datenaustausch zum Beispiel in Fragen der Lohnsteuer befüttert worden oder durch das Abfotografieren von Belegen mit bestimmten Apps entstanden. Die Frage ist jetzt: Wie wirkt sich so ein Setup auf die Qualität der Steuererklärung aus? Die Erwartung wäre, dass die Qualität zunimmt, weil es weniger Übertragungsfehler und Möglichkeiten gibt, zu manipulieren.

Und das haben Sie untersucht?
Ja, wir haben Studierende, die in Kürze auch ihre eigene Steuererklärung abgeben werden, in ein Forschungslabor der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät gesetzt. Dann haben wir sie konfrontiert mit unterschiedlich stark vorausgefüllten Steuererklärungen, die sie bearbeiten mussten. Wir haben beobachtet, dass die Qualität der Steuererklärungen gar nicht immer besser wurde. Denn es kam sehr stark darauf an, welche Art von Voreinträgen die Studierenden vorfanden. Bemerkenswert war zum Beispiel, dass die Teilnehmenden im Labor dazu neigten, die Vorjahresdaten zum Beispiel bei Spenden beizubehalten. Unabhängig davon, ob real im aktuellen Jahr gespendet wurde. Bei Teilnehmenden, die diese Vorjahresdaten nicht vorausgefüllt hatten, konnte man ein anderes Deklarationsverhalten beobachten. Insgesamt neigten die Probanden dazu, nur die vorausgefüllten Werte abzuändern, die zum Nachteil der Steuerpflichtigen vorausgefüllt waren. Die Schwäche bei solchen Laborversuchen ist die externe Validität. Man kann immer fragen, ob zum Beispiel hier die Studierenden die richtige Vergleichsgruppe in Bezug auf die reale Wirklichkeit waren.

Die Wirtschaftswissenschaften entwickeln sich also immer mehr zu einer Verhaltenswissenschaft?
Definitiv! Evidence-Based Management ist die Leitidee. Ein Beispiel dafür aus der Managementforschung ist die Produktivitätssteigerung von Teams. Dazu gibt es viel empirische Forschung. Das Beispiel: Den schnellsten Kassierer sollte man im Supermarkt  nach vorne setzen, so dass alle ihn sehen können. Gleichzeitig sollten sich alle anderen ebenfalls gegenseitig beobachten. Dies führt dazu, dass auch die anderen Kassierer schneller die Waren einscannen und kassieren. So werden nicht nur im Bereich Steuern und Rechnungswesen empirische Methoden eingesetzt, sondern auch etwa in den Disziplinen Personal und Management. Im Bereich der Finanzierung wird zum Beispiel sehr viel empirische Forschung betrieben und werden verschiedene Anlagestrategien evaluiert. So weiß man heute, dass aktiv gemanagte Fonds den Markt sehr oft dauerhaft nicht schlagen können. Daraus ist das Produkt der ETFs entstanden, der passiv gemanagten Anlageprodukte. Die empirischen Methoden, die dabei angewandt wurden, sind aktuell auch der Trend in der Forschung in der Steuerwissenschaft.

Wie würden Sie den Nutzen der empirischen Forschung für Steuerberatungsgesellschaften formulieren?
Es gibt sehr oft keinen unmittelbaren Nutzen für Beratungsgesellschaften in der Anwendung von empirischer Forschung. Aber es gibt einen indirekten Nutzen. Durch die empirische Evaluierung einer Regelung verstehen wir besser, wie die Regelung wirkt, und der Gesetzgeber kann diese auch wieder anpassen, wenn die Regelung nicht die erwartete Wirkung zeigt. So hilft die empirische Forschung bei der Fortbildung des Steuerrechts. Auch wenn die Steuerberatung nicht der direkte Adressat empirischer Forschung ist, können Beratungen dennoch ihren Nutzen daraus ziehen – zum Beispiel gibt es bei dem Megatrend der steuerlichen Transparenz auch Spielräume für Unternehmen, ob sie freiwillig mehr oder weniger transparent berichten. Ob dies Sinn ergibt, darüber können empirische Untersuchungen zur Akzeptanz bei Verbrauchern, bei Stakeholdern oder bei Aktionären Anhaltspunkte liefern, die ein Berater dann im Rahmen seiner Beratungsstrategie berücksichtigen kann.  

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