Es ist kein Zufall, dass sich ausgerechnet diese beiden zusammentun: WTS-Chef Fritz Esterer und der PSP-Partner Stefan Groß sind nicht zur zwei bekannte Persönlichkeiten in der Steuerszene. Sie haben beide Branchengeschichte damit geschrieben, den Markt aufzumischen. Jeder auf seine Art.
Esterer und seine WTS haben möglich gemacht, was die früheren Monopolisten am Beratungsmarkt für Großunternehmen, die Big Four, für unmöglich deklarierten, nämlich Steuerberatung für Milliardenunternehmen anzubieten, ohne über einen Prüfungsarm zu verfügen. Wirecard und der EU-Audit-Act sollten Esterer Recht geben. Groß und PSP wiederum führten gerade den erfolgsverwöhnten und konservativen bayrischen Mittelstandsboutiquen vor Augen, dass sich Prozessoptimierung, Digitalisierung, Compliancemanagementsysteme und Mittelstand nicht ausschließen – und dass man als Kanzleiboutique zu den Technologieführern gehören kann.
Nun schlagen Esterer und Groß ein neues Kapitel auf, das ebenfalls Branchengeschichte schreiben und wieder für jede Menge ärgerlicher Gesichter sorgen könnte. Beide tun sich im Bereich KI zusammen und stellen als Do-It-Yourself-Baukasten zur Verfügung, womit andere Beratungseinheiten gerade auf Kundenfang gehen und sich neue Geschäftsfelder erschließen wollen: generative KI für Steuerfunktionen.
Der Aufstieg von ChatGPT aus dem Hause OpenAI und mit Unterstützung von Microsoft hat die Digitalisierungslandschaft in der Steuerbranche völlig verändert. Kein Tax Tool, das mehr ohne KI-Chatbot auskommt. Die Big-Four-Gesellschaften investieren derzeit Milliardensummen in Software- und Anwendungskonzepte, die auf generativer KI basieren. Die neuen Steuer-KI-Produkte der Branche sind vielfältig und decken verschiedenste Pain Points von Unternehmen ab: von einer radikalen Verschlankung der Prozess- und Arbeitsabläufe über völlig neue und modulare Contentmanagementsysteme bis hin zu interaktiven Simulationen und Automatisierungen.
Große Hoffnungen ruhen auf diesen Produkten – nicht zuletzt wegen der erheblichen Investitionen. Häufig stecke in den neuen Steuer-KI-Produkten aber noch ein deutlich älterer Kern, so ein Marktbeobachter der anonym bleiben möchte. Ein Chatbot, der auf generativer KI basiere, ergänze lediglich schon vorhandene, traditionelle Technologie. Beides werde dann zusammen neu verpackt und als Innovation angepriesen.
Toolbox vs. Black Box
Das Problem für Steuerfunktionen bei der Beurteilung von solchen Softwareanwendungen ist herauszubekommen, was alt und was wirklich neu und innovativ ist. Steueranwendungen sind häufig eine Black Box, deren genaue Funktionsweise manchmal noch nicht mal dem bekannt scheint, der sie vertreibt. Das Black-Box-Syndrom hat in der Steuerbranche Tradition. Als Musterbeispiel für eine holistische Großanwendung, die von außen intransparent und undurchsichtig wirke, habe nach Ansicht von Marktbeobachtern in der Branche lange Zeit die Tax-Anwendung TaxOne von KPMG gegolten. Mitte der 2010er Jahre hätte fast jede Big Four eine solche oder ähnliche Großanwendung mit mehr oder weniger intransparenter Struktur am Start gehabt, so ein Brancheninsider. Dabei ist Intransparenz bei Software-Anbietern kein Verkaufshindernis, sondern sogar ein Erfolgsrezept wie SAP und Microsoft mit ihren Produkten seit Jahrzehnten beweisen.
In den letzten Jahren ging die Tax Technology aber einen anderen Weg. TaxOne sei unter dem KPMG Head of Tax Innovation & Technology Christian Stender nach und nach umgebaut worden zu einer modernen und modularen Plattformlösung, so ein Branchenkenner. Branchenprimus EY habe seine Service Line Tax Technology sogar aufgelöst und das Thema in die einzelnen steuerlichen Fachbereiche zurück verankert. Die Zeit holistischer Softwarekonzepte schien vorüber.
Mit dem Aufkommen generativer KI stand plötzlich die Gefahr im Raum, dass die gerade erst gewonnene Transparenz in Sachen Software wieder verschwindet. Denn was an Inhalt dahinter steht, kann ein Chatbot perfekt verschleiern. Nicht umsonst ist die zentrale Kritik an ChatGPT, dass nicht klar ist, welche Quellen es benutzt und wie die Antworten zustande kommen.
Esterer und Groß bewegen sich mit ihrem Joint Venture in die entgegengesetzte Richtung: Steuerfunktionen bekommen von ihnen eine Art Guided Toolbox an die Hand, mit der sie selbst austesten und ausprobieren können, wie sie KI nutzen können. „Um zu verstehen, was KI im steuerlichen Kontext leisten kann, muss man diese erleben und genau dieses Erlebnis schaffen wir mit unserem Playground-Ansatz“, beschreibt WTS-Chef Esterer die Maxime, die hinter der Joint-Venture-Idee steht. Jedes Industrieunternehmen habe KI in irgendeiner Form gegenwärtig auf der Agenda. „Man muss die Menschen mitnehmen und begeistern, so werden Vorbehalte abgebaut und es ergibt sich eine wunderbare Symbiose zwischen Mensch und KI“, so Esterer.
Das klingt harmloser als es für die Tool- und die Beratungsbranche ist, denn Esterer und Groß machen nun die Beratungs- und Softwarekunden selbst fit in Sachen KI. Unternehmen, die sich selbst eine kostspielige Erstellung einer generativen Steuer-KI nicht leisten können oder wollen, sind bisher auf die Aussagen der Beratungsbranche und der Toolanbieter angewiesen. Das ändert sich nun durch die WTS PSP Kooperation.
Power to the User
Denn der WTS-PSP-Toolbaukasten setzt die Anwender in der Steuerfunktion nicht vor vollendete Lösungen oder Front Ends, sondern nimmt sie direkt mit in den Maschinenraum der KI-Anwendungen. Dabei kommt der Toolbaukasten ohne Code und Programmierkenntnisse aus. Der Technologielaie in der Steuerfunktion kann sich so eigene Werkzeuge basteln und erstellen. Im Zweifel, um angebotenen Softwarelösungen von Beratern und Toolanbietern selbst auf den Zahn zu fühlen. Somit reduziert der Toolbaukasten die Abhängigkeit der Steuerfunktionen in Sachen KI von Beratern und Softwareanbietern. Der Anwender bekommt die Gestaltungsmacht in die Hand. Der Kunde wird KI-König. Das setzt die Messlatte für Berater und Toolanbieter deutlich nach oben.
Als „AI-Playground“ bezeichnen Groß und Esterer das Angebot ihres Joint Ventures, obwohl es deutlich mehr ist. Es bietet Steuerfunktionen eine Test- und Kontrollumgebung für Beratungsinhalte und -technologie. Und es erlaubt Inhouse-Steuerexperten auch ganz ohne Input von außen, sich eigene Anwendungen zu entwickeln. „Vielfach geht es auch um hochspezialisierte Fragestellungen, wie etwas Pillar II oder Transfer Pricing“, erläutert Groß die Ausgangslage für den Einsatz von KI in Steuerfunktionen. „Die Unternehmen haben dazu bereits selbst genügend Wissen angesammelt, welches sie nun mit Hilfe des Playgrounds mit KI anreichern und allen Mitarbeitern an die Hand geben können.“ Die AI-Lösung dient dazu, dieses unternehmensinterne Wissen schnell abrufbar zu machen und umzusetzen.
Als Baukasten kann die Lösung zwar von jedem Unternehmen eingesetzt werden. Dennoch wird der Baukasten eher etwas für Großunternehmen und Konzerne bleiben. Denn wie jede generative KI-Anwendung braucht auch diese Datenquellen in entsprechendem Umfang. Einen wirklichen Mehrwert gewinnen Unternehmen durch die Toolbox nur, wenn sie genügend eigene Dokumente haben, mit denen sie ihren Baukasten füttern können. Bei kleinen Mittelständlern dürfte die Datenbasis zu gering sein.
Um die WTS-PSP-KI mit einem gewissen Basiswissen auszustatten, wird die Lösung initial mit Daten und Input von WTS befüllt. Dazu werden derzeit Gespräche geführt, vom NWB Verlag* in Herne ausgewählte steuerliche Inhalte aufzubereiten, die dann passgenau als Self Service zur Verfügung gestellt werden. Damit unterscheidet sich die Anwendung von dem gerade von Taxy.io und dem Otto-Schmidt-Verlag vorgestellten Produkt „Otto Schmidt Answers“. Es gewährt mittels via generativer KI einen Einblick in das ganze Steuerportfolio des Verlages.
Für Datenschutz soll gesorgt sein: Die Anwendung verwendet zwar die Technologie ChatGPT 3.5, speichert aber in einer separaten Cloud, die auf europäischem Boden gehostet wird. Unternehmensdaten bleiben nur für das jeweilige Unternehmen verfügbar und verlassen nicht die EU-Grenzen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, damit Steuerfunktionen die Toolbox überhaupt nutzen können.
Fragen, um Fragen zu stellen
Neben Spezial-Bots kann der User auf diverse text- und datenbasierte Basiswerkzeuge zugreifen oder spezielle Assistenten nutzen, die das Prompting ersetzen oder perfektionieren. „Für die Entwicklung zusätzlicher KI-Anwendungen haben wir eine KI-Community mit zahlreichen Vertretern namhafter Steuerabteilungen ins Leben gerufen. Hier geht es uns insbesondere darum zuzuhören, was die Steuerfunktion wünscht und nicht, was wir denken, was sie sich wünschen könnte,“ betont Stefan Groß.
Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Prompt-Engineering: der Frage, welche Fragen man der KI stellt. Wie schon beim Orakel von Delphi hängt das eigene Schicksal ganz davon ab, dass man die richtigen Fragen stellt. Hier setzen WTS und PSP auf sogenannte intelligente Prompts, also Prompts, die bei der Erstellung von Prompts helfen. Das klingt ein wenig nach den Matrix- oder Terminator-Filmen und ist im Kern auch so, Künstliche Intelligenz hilft dabei, sich selbst zu verbessern. So stellen diese intelligenten Prompts ganz gezielte Rückfragen zur Sachverhaltsermittlung, so dass am Ende auch ein valides steuerliches Ergebnis bei der Anfrage herauskommt. Daher wird das Verfahren auch Reverse Prompting genannt, weil der Prompt Rückfragen stellt, anstatt gleich zu antworten.
Diese Prompts kann man in der WTS-PSP-Toolbox beliebig verbessern und in eigenen Prompt-Bibliotheken so hinterlegen, dass sie zur Erstellung immer weiterer KI-Anwendungen benutzt werden können. So erlaubt es die Toolbox Steuerfunktionen, immer tiefer in den Kaninchenbau der eigenen steuerlich relevanten Unternehmenssachverhalte vorzudringen.
Ein wenig in die Zukunft gedacht, könnten Steuerfunktionen so ihre Tools anschließen an PowerBI, SAP S4 / Hana und Business-Intelligence-Anwendungen. Schon heute ist es ein Meilenstein, dass mit SAP S4/Hana nicht nur das Finance-Modul wie früher an die Steuerfunktion angeschlossen ist, sondern eben auch der Zugriff auf Lagerlogistik und Vertrieb möglich ist. Gerade bei Umsatzsteuer- und Zollanwendungen ergeben sich ganz andere Möglichkeiten. Regularien wie CBAM und CSRD zwingen Steuerfunktionen zudem, immer früher und immer tiefer in Unternehmenssachverhalte und Vorgänge vorzustoßen, um deren steuerliche und zolltechnische Relevanz zu prüfen und entsprechende Aussagen zu unternehmerischen Entscheidungen zu treffen.
„One fits all“ ist passé
Die Toolbox bietet Steuerfunktionen daher die Möglichkeit, in die Untiefen der eigenen Konzernstrukturen vorzudringen und von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedliche Anwendungen zu kreieren. Holistische Anwendungen von Beratern nach dem „One fits all“-Prinzip sind damit endgültig passé.
Aber warum investiert WTS mit der Toolbox in ein Konzept, das dem Kunden Selbständigkeit an die Hand gibt, wo man als Berater doch eigentlich mehr von einem abhängigen Kunden hat? Dass ausgerechnet WTS ein im Grunde aus Beratungssicht destruktives und kontraintuitives Konzept verfolgt, erklärt sich aus der Geschichte der ehemaligen Steuerabteilung von Siemens.
Während Beratungsgesellschaften wie EY, PwC, Deloitte oder KPMG zwar für Steuerfunktionen arbeiten, gehört es bei WTS vom Beginn zum Kern der Marke, Steuerfunktionen ganz oder teilweise zu übernehmen. Das galt für Siemens genauso wie für E.on oder die Allianz. Business Partnering bedeutet für WTS daher nicht nur verlängerte Werkbank, sondern auch stets Übernahme der verwendeten Arbeitsmittel. Mit den Steuerfunktionen nahm WTS also auch deren Softwarelösungen mit an Bord. Im Gegensatz dazu schlugen sich die anderen großen Beratungsgesellschaften nur auf dem Mandat mit diesen Unternehmensanwendungen herum und konnten stets argumentieren, dass die Anwendungen von PwC, KPMG, Deloitte oder EY doch eigentlich viel besser geeignet wären.
WTS habe nach Angaben eines Brancheninsiders schon Mitte der 2010er Jahre eine schier unübersichtliche Anzahl an Einzellösungen, VBA-Makros und Excel-Programmierungen zu managen gehabt, deren Anzahl sich mit jeder weiteren Übernahme einer Steuerfunktion vergrößert habe. Aus WTS-Sicht ist es daher logisch, nicht auf eine einzige generative-KI-Anwendung im Stil von „One fits all“ zu setzen, sondern auf einen Baukasten, der auch im eigenen Business-Partnering-Modell einfach und modular eingesetzt werden kann.
Projekte als Geldbringer, nicht Wissensvermittlung
Aber Esterer und Groß wären nicht die, die sie sind, wenn sie nur in dieser Hinsicht den Markt aufmischen würden – ihre Toolbox beinhaltet noch eine weitere Spitze. Dadurch, dass Inhalte von NWB und WTS Steuerfunktionen zur Selbstbedienung bereitgestellt werden sollen, leiten die beiden einen weiteren Paradigmenwechsel ein: Reines Wissen ist nicht mehr das, womit Beratungen Geld verdienen. Denn die Toolbox stellt Beratungswissen zur Verfügung, ohne dass daraus automatisch ein Beratungsauftrag generiert werden muss.
„Das ist Wissen, das man vor ein bis zwei Jahren vielleicht noch als Memo abgerechnet hätte“, sagt Stefan Groß. Die reine Wissensbereitstellung sei allerdings nichts mehr, wofür der Mandant auf Dauer bereit sei, Stunden zu honorieren. „Statt Wissen zu replizieren, muss es in der Beratung künftig darum gehen, Technologie und Wissen zu verheiraten, um auf diese Weise etablierte Prozesse aufzubrechen und konsequent neu zu denken“ so Groß. Dem pflichtet auch Esterer bei: „Theoretisches Wissen ist nichts mehr, wonach Mandanten künftig noch fragen werden.“
Implementierung anstelle von Gutachten
Noch vor wenigen Jahren standen aber gerade Anwaltskanzleien in dem Ruf, zu steuerlichen Fachfragen vor allem exzellente Gutachten zu produzieren – und sich in keiner Form darum zu kümmern, wie eine Steuerfunktion diese dann in der Praxis umsetzen könne. Das klassische Anwaltsselbstverständnis ähnelte sehr dem des Orakels von Delphi. Wer sich Rat suchend vorwagte, der bekam von der anderen Seite des Schreibtisches eine mehr oder weniger kryptische Antwort aus den Sphären des steuerjuristischen Hochrecks. Und durfte dann selbst sehen, was er nach Bezahlung der Stundensätze damit anfing.
Dadurch, dass Groß und Esterer nun dieses Wissen mittels generativer KI einfach bereitstellen, begraben sie diese Art des Geschäftsmodells in der steuerlichen Beratung. ‚Nicht die Wissensbereitstellung, sondern deren Implementierung in den spezifischen Unternehmensablauf‘- ist das neue Dienstleistungscredo für Beratungen, das Groß und Esterer verfolgen.
KI-Turbo für die gesamte Branche
Damit begraben die beiden Hoffnungen in den Big Four, einen zusätzlichen Nutzen via generativer KI aus den zigtausenden Dokumenten und Gutachten destillieren zu können, die diese Gesellschaften über die Jahre für hunderte Mandanten erstellt haben. Eine einfache und schnelle Zweitvermarktung schon einmal abgerechneter Gutachten wird so nicht mehr funktionieren – auch dann nicht, wenn man alle mandatsspezifischen Inhalte abzieht. Denn nur das bereits vorhandene Wissen in eine KI zu gießen und damit neue Geschäftsfelder zu erschließen, wird nicht genügen, wenn die Steuerfunktion schon über die Toolbox verfügt. Durch die Bereitstellung von Wissen by the way zwingen Gross und Esterer die anderen Beratungen, in ihren Angeboten über die reine Wissensbereitstellung hinaus zu gehen.
Esterer und Groß werden daher mit ihrem Joint Venture zu einem KI-Turbo für die gesamte Branche – von Toolanbietern, über Beratungen bis hin zu Wissensvermittlern wie Fachverlagen. Als ob die KI-Entwicklung inhaltlich und zeitlich nicht schon rasant genug von statten ginge.
* Der JUVE Verlag ist eine Tochter der NWB-Gruppe.