Herr Wilmanns, seit Februar dieses Jahres sind Sie Honorarprofessor für ‚Steuerrecht und Steuerpolitik‘ an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Wie kamen Sie dazu?
Jobst Wilmanns: Ein bisschen wie die Jungfrau zum Kinde. Ursprünglich hatte ich keine weitergehende akademische Karriere angestrebt. Vor etwa vier Jahren wurde ich jedoch von der Justus-Liebig-Universität Gießen angesprochen. Die Steuerlehre war dort vakant und der damalige Dekan fragte mich, ob ich die Universität in der Lehre unterstützen kann. Es gab allerdings eine partielle Skepsis in der Professorenschaft in Bezug auf das Engagement von Beratungsunternehmen. Mit vergleichbaren Verpflichtungen hatte man an der Universität in der Vergangenheit wohl aufgrund der mangelnden Nachhaltigkeit schlechte Erfahrungen gemacht. Schritt für Schritt haben wir sieben Lehrmodule im Bachelor- und Master-Studiengang organisiert, die mittlerweile alle wesentlichen Themen der Steuerlehre abdecken. Vor rund einem Jahr wurden im Rahmen von mehreren Gesprächen mit der neuen Dekanin, und zwar im Lichte der Zufriedenheit der Universität mit der Umsetzung des entwickelten Lehrprogrammes als auch im Blickwinkel der Weiterentwicklung der Steuerlehre als integrativer Bestandteil der Fakultät gemeinsam die Möglichkeit der Berufung zum Honorarprofessur evaluiert.
Sie haben Ihren Lehrstuhl „Steuerlehre und Steuerpolitik“ genannt. Warum?
Im Nachgang zu meiner Berufung als Honorarprofessor habe ich recherchiert, wie die Steuerprofessuren an anderen deutschen Universitäten organisiert sind: Eine der ersten Erkenntnisse war, dass in den meisten Fällen die Lehrstühle die Bezeichnung ‚Betriebliche Steuerlehre‘ tragen. Mit meinem beruflichen Hintergrund möchte ich den Fachbereich Steuern weiterfassen, und zwar interdisziplinär zur Betriebswirtschafts- und Volkswirtschaftslehre sowie mit noch zu definierenden Schnittstellen zur juristischen Fakultät. Dies ist der maßgebliche Grund, dass die mir übertragene Professur die Bezeichnung Professur für Steuerlehre und Steuerpolitik trägt.
Wie genau ist Deloitte hier involviert? Von der Webseite des Lehrstuhls führt immerhin ein Link zu Informationen über Deloitte…
Die Professur ist im Grundsatz unabhängig von meiner Rolle bei Deloitte. Es gibt verbunden mit meiner Professur keinen formellen (Kooperations-) Vertrag zwischen Deloitte und der Justus-Liebig-Universität Gießen und damit auch keinen umfassenden Link zwischen den jeweiligen Webseiten. Mir geht es mit meinem Engagement im Wesentlichen darum, dass wir als Unternehmen und Führungskräfte eine gesellschaftliche Verantwortung hinsichtlich der Ausbildung der nächsten Generationen haben, der ich mich gerne stelle. In der Folge habe ich im Kontext des Aufbaus und Umsetzung der Lehrmodule Kolleginnen und Kollegen angefragt, mich hier zu unterstützen. Sicherlich denke ich zusammen mit meinen Professorenkolleginnen und -kollegen darüber nach, wie wir den Wissensaustausch zwischen Theorie und Praxis weiterentwickeln und welche Rolle hier Deloitte, aber nicht nur, spielen kann. Hier sind unter anderem Praktikanten-, Werkstudenten- und Ausbildungsprogramme, aber auch Entwicklungs- und Gesprächsplattformen wichtige Bausteine.
Auch wenn es keinen Vertrag gibt – Sie investieren ja Zeit und Geld in das Thema. Was haben Sie davon?
Im Grundsatz sollte jeder Austausch zwischen Theorie und Praxis verschiedene Win-Win-Win-Situationen für alle Beteiligten erzeugen. Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen sind wir in der Lage auf einem anspruchsvollen, spezialisierten Level, Wissen an die Studierenden zu vermitteln. In Kombination mit Werkstudenten- und Praktikantenprogrammen geben wir den Studierenden die Möglichkeit, das angeeignete Wissen in der Praxis zu erproben und anzuwenden. Gleichermaßen wollen wir mit den genannten Programmen neues Wissen und Lösungsansätze entwickeln. Hiervon profitieren alle Beteiligten, die Universitäten, die Studierenden sowie auch wir als Arbeitgeber. Doch zurückkommend auf mein Engagement an der Justus-Liebig-Universität Gießen; dieses hat sich entwickelt aus der damaligen Anfrage, der tollen Aufnahme und Unterstützung seitens der Universität und den sehr positiven Rückmeldungen seitens der Studentenschaft. Insofern wäre es falsch zu behaupten, dass hinter meinem Engagement und in der Folge die Professur ein Kalkül gestanden hat.
Dass sich Kanzleien in der Hochschullandschaft engagieren, sieht man auch in Hamburg oder Hannover, wo sich Beratungsgesellschaften für die Steuerlehre einsetzen – denn der Bedarf an Absolventinnen und Absolventen ist hoch. Wie würden Sie den Zustand der Steuerlehre in Deutschland beschreiben?
Leider ist meine subjektive Beobachtung, dass viele Lehrstühle entweder aus Budgetgründen oder auch mangels von wissenschaftlichem Nachwuchs nicht neu besetzt oder diese durch scheinbar innovativere Lehrstühle ersetzt werden. Diese Beobachtung, und zwar auch Lichte der Bedeutung und Zukunftsträchtigkeit unseres Berufsstandes, erfüllt mich mit großer Sorge. In der Steuerausbildung sollte meines Erachtens, und vielleicht bin ich hier auch ‚Oldschool‘, wieder eine sichtbarere Abgrenzung zwischen einer praxis- und wissenschaftsbezogenen Lehre hergestellt werden. Bei Sichtung der Webseiten konnte ich – offen gesprochen – nicht durchgängig eine klare Linie in den Lehrangeboten erkennen. Mit meiner Professur möchte ich zum einen eine umfassende Ausbildung der Studierenden hinsichtlich der Steuersystematik und den hiermit verbundenen Steuerarten erreichen, zum anderen möchte ich aber auch den Studierenden Plattformen zur intellektuellen, auch interdisziplinären Weiterentwicklung von Wissensgebieten anbieten.
Schon 2013 hatten ja einige Hochschullehrende in einem Aufsatz in der Zeitschrift ‚Der Betrieb‘ beklagt, die klassische-normative Steuerlehre würde gegenüber der statistisch-empirischen zurückgedrängt. Ihre Beobachtung passt da ins Bild. Warum ist das so?
Das ist für mich eine schwierige Frage, denn ich bin aus der Praxis wieder in die Theorie zurückgekehrt. Insofern kann ich mich nicht einer der genannten Richtungen zuordnen. Aus meiner beruflichen Tätigkeit als auch meinem Engagement in der Schmalenbach-Gesellschaft bin ich ein ausgesprochener Anhänger von ‚Diversity‘, das heißt, für die Meinungsbildung und die Entwicklung neuer Denkansätze sollten die notwendigen Freiräume geschaffen werden und keine Denkverbote bzw. -vorgaben geben. In diesem Kontext erscheint mir wichtig, dass wir uns öffentlich mehr einmischen in die Fragestellung, wohin sich das Steuerrecht international und national hin entwickelt. Die laufenden Rechtsentwicklungen zum Beispiel zu DAC7 und Pillar I/II verdeutlichen die Notwendigkeit des öffentlichen Diskurses.
Auffällig ist ja, dass in so vielen Städten der Druck auf die Hochschulen und das Engagement an den Lehrstühlen aus der Beraterschaft kommt. Geht es nicht mehr ohne?
Wie bereits zuvor erwähnt, haben wir in der Praxis gleichermaßen eine unverzichtbare Verantwortung Universitäten und Hochschulen in der Ausbildung von Studierenden im Bereich der Steuern zu unterstützen. Ich würde aber hier nicht von Druck, sondern vielmehr von Verantwortung sprechen. Ich denke, dass gerade im Steuerrecht ein notwendiger Austausch zwischen Theorie und Praxis notwendig ist. Diese Symbiose macht doch den vermittelten Lehrstoff für die Studierenden erst richtig spannend. Um nun auf Ihre Frage zurückzukommen, ja es geht nach wie vor ohne, aber gemeinsam erzeugen wir neue Inspirationen.
Aber geht die Hochschulpolitik dann nicht an den Bedürfnissen der Branche vorbei?
Dieser These würde ich so nicht folgen. Ich denke, und dies unabhängig von der Steuerlehre, dass die Politik sich massive Gedanken zur Bildungspolitik im Generellen und zur Förderung und Ausstattung der Universitäten im Speziellen machen muss. Es wäre müßig wieder das Thema Bologna aufzumachen, doch bin ich klar der Meinung, dass das Studium nicht mit dem Bachelor-Abschluss enden darf. Maßgeblich im Masterstudium erhalten die Studierenden das Rüstzeug für die intellektuelle Weiterentwicklung von Denkansätzen und Lösung von Problemstellungen. In der Praxis benötigen wir zunehmend weniger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nur Wissen replizieren. Diese Tätigkeiten werden zunehmend, und zwar auch im steuerlichen Bereich, entweder durch intelligente Systeme oder durch ausländische Delivery Center übernommen. Vielmehr benötigen wir eine ‚gereifte‘ Intelligenz, um Rechtsentwicklungen, ökonomische und politische Fragstellungen sowie Entwicklungen zu verstehen, Wissen miteinander zu verknüpfen und Lösungen zu erarbeiten. Von der jungen Generation erwarten wir zunehmend Eigenschaften und Fähigkeiten des vernetzten Denkens gepaart mit einem hohen fachlichen und sozialen Anspruch. Das heißt, im Lichte dieses Anspruchs müssen die Universitäten meines Erachtens derart ausgestattet werden, dass diese Fähigkeiten, insbesondere im Masterstudium, adäquat vermittelt werden können.
Gibt es denn dazu einen überregionalen Austausch? Es gibt viele einzelne, zum Teil erfolgreiche Initiativen an einzelnen Hochschulstandorten, die sich augenscheinlich aber immer auf die Situation an der jeweiligen Hochschule konzentrieren.
Ja, den gibt es, beispielsweise über die Schmalenbach-Gesellschaft. Professorinnen und Professoren wie zum Beispiel Deborah Schanz aus München, Caren Sureth-Sloane aus Paderborn, Christoph Spengel aus Mannheim und Andreas Oestreicher aus Göttingen haben da starke Stimmen und sind wirkliche Aushängeschilder für unseren Berufsstand.
Wie müsste aus Ihrer Sicht die perfekte Steuerlehre in Deutschland aussehen?
Das ist eine schwierige Frage und hier gibt es nicht DIE Antwort. Ich glaube, es steht und fällt damit, ob es den Universitäten und Hochschulen gelingt, Begeisterung für das Thema zu erzeugen. Im Marketing für unseren tollen Berufsstand müssen wir besser werden, unsere Leidenschaft hierfür zeigen und in die nächste Generation tragen. Wir müssen den Studierenden klarmachen, dass Steuern nicht nur Zahlen und Gesetze sind, sondern ein hoch anspruchsvolles, interdisziplinäres und hochaktuelles Themengebiet ist, das in alle Sphären des täglichen Lebens hineinragt. Ich hatte dies in einer der vorhergehenden Fragen mit ‚vernetztem Denken‘ bezeichnet. Die Aktualität und Dynamik des Steuerrechts und die Auswirkungen auf die Gesellschaft, der Volkswirtschaft, den Unternehmen und jeden einzelnen Bürger müssen wir stärker ins Bewusstsein rücken. Unser Beruf ist geprägt von einem hohen Maß an Verständnis der persönlichen Hintergründe und Gegebenheiten von Personen und Unternehmen, verknüpft mit einer hohen fachlichen Kompetenz sowie der Fähigkeit der Transformation dieses Wissens in eine rechtlich und finanziell abgesicherte Rechtsposition. Das ist anspruchsvoll und toll, oder? ‚Nur Steuern ist schöner‘!