JUVE Steuermarkt: Generative Sprach-KI wie ChatGPT ist in aller Munde, aber kaum jemand versteht richtig, was da eigentlich vor sich geht. Können Sie den Einsatz von generativer KI kurz beschreiben?
Dr. Vanessa Just: ChatGPT basiert auf einer künstlichen Intelligenz. Das ist aber eine andere Form von Intelligenz als die menschliche Intelligenz. Denn eine künstliche Intelligenz ist erstmal nur so ‚intelligent‘ wie die Daten, die ihr zur Verfügung gestellt wurden. Also Daten, die schon einmal für die Maschine als ‚Lernmaterial‘ ausgewählt und speziell ‚trainiert‘ wurden. Daher sind Themen, die einen repetitiven Charakter haben schon heute durch generative KI sehr gut zu erledigen. GPT bedient ferner bereits kreative Anfragen und ist also streng genommen nicht nur auf repetitive Tätigkeiten beschränkt, sondern kann noch mehr. Wenn es jedoch um eine erstmalige Auslegung geht, dann ist die menschliche Intelligenz immer noch besser. Die KI ist nicht in der Lage, eine neue Regulatorik oder neue gesetzliche Regelung erstmalig anzuwenden. Sie braucht einen zumindest schon einmal durchgeführten Ablauf, anhand dessen sie ein Muster ‚erlernen‘ kann.
Was kann die KI denn dann konkret?
Wichtig ist, welche Trainingsmasse der KI zugeführt wurden. Der Vorgängerversion ChatGPT 3.5 waren viele aktuelle Steuer- und Rechtsdaten noch gar nicht bekannt. GPT4 hat nun einen viel aktuelleren Datenkorpus. GPT3 kannte zum Beispiel den Ukrainekrieg noch nicht. Allerdings wird die KI nie den allerneusten Stand haben, weil Daten immer erst trainiert werden müssen.
Weg von Reproduktion hin zu Kreativität
Welche Folgen hat die generative KI konkret für steuer- und rechtsberatende Berufe?
Generell wird es durch die generative KI eine Verschiebung von Tätigkeitsmustern auch in beratenden Berufen wie der Steuer- und Rechtsberatung hin zur Kreativität und weg von der bloßen Reproduktion geben. Grundsätzlich ist daher alles, was in der Buchhaltung stattfindet, leicht automatisierbar, zum Beispiel das Auslesen von Dokumenten, die Interpretation von Steuersätzen oder das Ablegen von Themen. Auch die Steuerdeklarationen kann ich mir grundsätzlich als generatives KI-Thema vorstellen.
Gerade in der Steuerberatung gibt es noch weitere iterative, standardisierte Tätigkeiten wie etwa eine Tax Due Diligence auf Basis bestimmter Datenräume. Könnte man generative KI auch dort einsetzen, wenn man diese Datenraum vortrainiert?
Ja, das sind Themen, wo wir auf jeden Fall das Potential sehen. Das Beratungsgeschäft selbst wird sich durch den Technologieeinsatz auf jeden Fall wandeln.
Inwiefern wandelt sich dann die Rolle des Berufsträgers?
Ich glaube weiterhin an das Vieraugenprinzip und dass das erste Augenpaar ganz häufig die Technologie sein kann. Die Rolle des Berufsträgers wird sich dahingehend wandeln, dass er in Zukunft das zweite Augenpaar sein wird. Also derjenige, der die letzte Überprüfung durchführt, Deklarationen und Gutachten freigibt. Er wird weiter derjenige sein, der berufsrechtlich für die Ergebnisse haftet. Ich denke, das ist auch genau richtig so.
Welche weiteren Einsatzbereiche gibt es für die KI noch rund um das Thema Steuern?
Im Zollbereich ist zum Beispiel vieles möglich. Freihandelsabkommen, Lieferantenmanagement und Lieferketten lassen sich sehr gut in der KI abbilden und so die Möglichkeit von Simulationen schaffen. Und das ist auch sinnvoll. Denn die Komplexität der Daten, die dabei verarbeitet werden müssen, sind manuell gar nicht mehr handhabbar.
Sie wollen auf Anwendungen wie Dutyland hinaus, die speziell das ‚Sich Zurechtfinden‘ bei Zolltarifierungen erleichtern.
Dutyland wäre unter anderem eine solche Anwendung. Denn die Transparenz über alle Bereiche hinweg ist besonders wichtig, wenn man sich näher mit Lieferketten beschäftigt. Nehme ich zum Beispiel einen höheren Einkaufspreis in Kauf, wenn ich dadurch meine Lieferkosten reduzieren und von einem Freihandelsabkommen profitieren kann? Wichtig ist hier die Gesamtbetrachtung, denn Zollkosten fallen erst am Ende an. Wenn ich den gesamten Prozess in verschiedenen Simulationen betrachte, dann habe ich ganz andere Optimierungspotenziale. Simulationen mittels KI schaffen die Entscheidungsgrundlage. Ohne Unterstützung durch Simulationsmodelle lässt sich die große Zahl möglicher Alternativen nicht überschauen. Die KI kann verschiedene Szenarien vorschlagen, um die Entscheidungsgrundlage für den Menschen zu bereiten.
Welche Rolle spielt denn in diesem Zusammenhang die auf Sprache basierende generative KI?
Im Rahmen der Zoll-Prozesskette müssen viele Dokumente erfasst und vor allem interpretiert werden, zum Beispiel Liefer- und Frachtdokumente in verschiedenen Sprachen. Eine Sprach-KI kann dabei helfen, diese Dokumente zu übersetzen, zu interpretieren und das Ergebnis zu verarbeiten.
Niedrigschwelliger Zugang
Müssen Steuerberater fürchten, durch Informatiker und Programmierer ersetzt zu werden?
Nein, absolut nicht. Früher hat man immer über dieses Spannungsfeld gesprochen. Man befürchtete, dass der Steuerberater selbst zum ‚Techie‘ werden oder durch einen ‚Techie‘ ersetzt werden wird. Der Trend ist heute aber ein anderer, nämlich dass wir zu No-Code und Low-Code hinkommen.
Das müssen Sie erläutern.
Low-Code bedeutet, dass etwa Steuerberater und Steuerfachangestellte Anwendungen konfigurieren können, ohne selbst programmieren zu müssen. Die Nutzung von Software wird also insgesamt niedrigschwelliger. Ein Steuerberater wird gar nicht mehr verstehen müssen, wie ein neuronales Netz funktioniert, das hinter der KI-Anwendung steht. Er wird lediglich sehr viel häufiger in seinem Berufsleben mit KI-Anwendungen in Berührung kommen.
Wie wird das konkret aussehen?
Für die juristische und steuerrechtliche Arbeit werden mehr oder weniger fertig trainierte KI-Anwendungen wie ChatGPT oder Harvey als Endanwendung zunehmend relevanter. Der Fachbereich muss dann die KI-Anwendung nicht erst trainieren, sondern kann sich großer vortrainierter KI-Bibliotheken bedienen, die er spezifisch zusammenstellen kann, um dann die Anwendung parat zu haben, die auch zum eigenen Fachbereich passt. Das führt zu einer höheren Akzeptanz bei den Nutzern.
Mängel bei Transparenz und Datenschutz
Und was ist mit dem Datenschutz?
Transparenz und Datensouveränität werden an Bedeutung gewinnen. Wir haben heute eine große Begeisterung für die generative KI. Aber wir müssen die Nutzer auch mehr für die Themen Datensouveränität und Datenhoheit sensibilisieren. Ich kann Ihnen im Moment nicht sagen, wie Harvey zum Beispiel trainiert ist, weil die Quellen nicht transparent sind. Hier besteht mehr oder weniger eine Blackbox.
Ist das bei den deutschen KI-Anwendungen anders?
Wenn man deutsche Lösungen betrachtet, zum Beispiel das Start-Up Aleph Alpha mit dem Sprachmodell Luminous, sieht man einen anderen Ansatz. Luminous hat eine ähnliche Leistungsbilanz wie ChatGPT und kann Texte klassifizieren und erstellen. Aber Luminous geht mit der Recheninfrastruktur und Trainingsparametern ganz anders um. Effizienz ist hier auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit ein wichtiger Faktor unter anderem wegen des Stromverbrauchs und des CO2-Fußabdrucks. Aleph Alpha hat den Nachhaltigkeitsgedanken bereits mitgedacht und sagt von sich, dass sie bei gleichem Leistungsniveau nur halb so viele Parameter wie ChatGPT nutzen. Damit sind sie doppelt so effizient. Ein anderes Beispiel ist You.com. Das ist eine KI-Suche wie Google, die aber ihre Quellen mit angibt. Die Suchmaschine führt auf, wo sie die Treffer herzieht und worauf die Treffer beruhen. Nutzer können ihr eigenes Sucherlebnis anpassen, indem sie bevorzugte Quellen für genauere Suchergebnisse auswählen und die Kontrolle über ihre Datensicherheit übernehmen. Transparenz über Quellen, das fehlt mir bei anderen Lösungen. Wenn wir über Steuern und Finanzdaten nachdenken, dann haben Datensicherheit und Datenhoheit nochmal eine ganz andere Relevanz. Da muss man sich noch mal verstärkt fragen, wie ChatGPT damit umgeht. Das bereitet mir schon Bauchschmerzen.
Was unternimmt der Bundesverband KI in dieser Hinsicht?
Wir haben uns im Rahmen der ‚Large European AI Models‘ an der Debatte beteiligt. Das ist eine europaweite Machbarkeitsstudie im Hinblick auf die Förderung der europäischen KI-Infrastruktur hinsichtlich Nachhaltigkeit, Datensicherheit und Rechenkapazität. Wenn wir ausschließlich auf Tools aus Amerika setzen, begeben wir uns womöglich in eine gefährliche Abhängigkeit. Und wenn wir weiterhin sorglos unsere Daten in ChatGPT hineingeben, dann sind wir in aller erster Linie Gratis-Trainingsmasse für diese Anwendung. Damit befeuern wir ein weiteres US-Geschäftsmodell. Das haben viele so nicht auf dem Schirm.
Inwiefern sollten Eingaben zu deutschen steuerlichen Sachverhalten, zum Beispiel bei ChatGPT, amerikanischen Geschäftsmodellen nutzen?
Nun, weil der Algorithmus menschlich gesprochen alles zum Lernen verwendet, was er in die Finger kriegen kann. Also auch Ihre Eingaben. Die Amerikaner trainieren mit den an ChatGPT gestellten Fragen: Wie stellen Sie eigentlich ihre Fragen? Wonach fragen Sie? Wie ist Ihr Satzbau, was ist für Sie von Interesse und was nicht? Wie, wo, wann und wie häufig fragen Sie bei einer Antwort nach. So bauen sich Satzbäume auf. Denn die KI muss Ihnen folgen können und in der Lage sein, über mehrere Fragen hinweg Ihrer Storyline zu folgen. Hier geben Sie der KI wichtige Impulse, um für das KI-Modell weitere Trainingssätze aufzubauen. Hier trainieren Sie gratis mit.
Das bedeutet, dass die KI nicht nur die vortrainierten Daten nutzt, sondern auch meine Fragen? Wenn ich also anhand eines bestimmten Mandantenproblems genau dessen steuerlicher Struktur und den Möglichkeiten der Strukturierung frage, würde die KI dies aufsaugen?
Genau, Trainingssätze werden anhand von Fragen erstellt. Je zielgerichteter eine Frage, umso präziser wird auch die KI sich entwickeln. Wenn Sie der KI zum Beispiel en détail einen Mandanten beschreiben und gezielt nach bestimmten Konstellationen fragen, dann lernt die KI über Ihren Mandanten mit – auch sensible Informationen, falls diese in den Fragen enthalten sind. Die Gefahr besteht, dass die KI diese gelernten Informationen auch wieder an jemand Dritten ausgibt. Die KI lernt ferner Ihre Vorgehensweise anhand Ihrer Fragen. Sie lernt damit, wie Sie eine steuerliche Strukturierung in welcher Reihenfolge vornehmen. Sie lernt anhand Ihrer Rückfragen, wo sie steuerlich noch nachbessern muss und weiß, dass sie richtig liegt, wenn Sie aufhören, weitere Nachfragen zu stellen. Im Idealfall lassen Sie am Schluss noch ein Feedback da, wie sie die Antwort fanden. So bringen Sie der KI unbewusst bei, wie man eine steuerliche Restrukturierung mit komplexen internationalen Verflechtungen durchführt und mandantenspezifisch zuschneidet. Ein Wissen, das die KI als Trainingsdatensatz lernt und in der Folge auch jedem anderen zur Verfügung stellt.
Das klingt wie eine Daten- und Wissenskrake?
Genau das ist es auch – ich mag die Aufmerksamkeit, welche die Technologie durch ChatGPT bekommt. Es macht den Leuten keine Angst. Es ist auch im Alltagsleben niedrigschwellig. Trotzdem setzt ein Bewusstsein dafür ein, welchen destruktiven Charakter das haben kann, besonders für Arbeitsplätze. Allerdings stellen sich zu wenige die Frage, was mit den Daten passiert, die ich hineingebe und was das für Geschäftsmodelle zur Folge hat.