Das Urteil – und worum es geht: Ein Ehepaar hatte mit Unterstützung des Bundes der Steuerzahler (BdSt) gegen die Zusatzabgabe geklagt und argumentiert, dass die Grundlage dafür nach dem Ende des Solidarpakts II entfallen sei. Darüber hinaus verstoße die Beschränkung der Sonderabgabe auf einen Teil der Steuerpflichtigen gegen den Gleichheitssatz im Grundgesetz (Az. IX R 15/20).
JUVE Steuermarkt: Sie haben in dem Verfahren argumentiert, dass der Soli nur als Ergänzungsabgabe zur Abdeckung von Bedarfsspitzen erhoben werden dürfe. Davon gibt es im Moment doch reichlich.
Nils Kröber: Der Soli 1995 wurde ausdrücklich in seiner Gesetzesbegründung für die Bewältigung der finanziellen Auswirkungen des Bundes für den Aufbau Ost eingeführt und nicht um irgendwelche in der Zukunft liegende, anderweitige Finanzierungsbedarfe zu decken. Er ist als ‚Bedarfsspitze‘ zweckbezogen und die Finanzierungszwecke können ohne Gesetzesbeschluss nicht beliebig einfach geändert werden, wobei nicht einmal dies geschehen ist. Nach unserer Einschätzung ist es so, dass wir bereits im Jahr 2018 – also vor dem Auslaufen des Solidarpaktes Ende 2019 – einen Solidaritätsbeitrag hatten, der die eigentlich dafür angedachten Kosten bei weitem übersteigt. Seit 2020 ist klar, dass die Einnahmen durch den Soli in keinem Verhältnis mehr zum eigentlichen Zweck stehen. Wir haben einen Milliarden-Überschuss, der in den allgemeinen Haushalt fließt. Natürlich steht die Politik fortlaufend vor zu finanzierenden Mammutaufgaben, die außergewöhnlich sind. Aber der bereits 1995 (!) eingeführte Soli ist nicht das richtige Modell, um diese zu finanzieren.
Der BFH sieht jedoch weiterhin einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf und den ursprünglichen Zweck – nämlich den Aufbau Ost als „Bewältigung einer Generationenaufgabe – zumindest für die Jahre 2020 und 2021 noch gegeben. Und das selbst bei einer Umwidmung der Finanzierung der Kosten der Pandemie und des Krieges. Wie können Sie dagegen argumentieren?
Der BFH hat hier tatsächlich einen sehr weiten Rahmen gesteckt. Und der Gesetzgeber kann sich nun weiterhin dieses Instruments bemächtigen und aus einem Ausnahmewerkzeug ein Standardwerkzeug machen. Ein Finanzierungsbedarf lässt sich ja immer konstruieren. Natürlich hat der Bund derzeit außergewöhnliche Kosten. Aber es glaubt doch niemand daran, dass der Aufwand für den Wiederaufbau Ost – oder auch zum Beispiel der Bundeswehr – heute noch genauso hoch ist wie etwa in den Hochzeiten des Kalten Krieges. Es gab und gibt keine Phase in der Bundesrepublik, in der man nicht Argumente für eine Finanzierung findet. Dennoch war für diese Finanzierungsaufgaben seinerzeit keine Ergänzungsabgabe notwendig.
Auf der anderen Seite sagt der BFH in seinem Urteil, dass ein dauerhafter Finanzbedarf nicht über eine Ergänzungsabgabe wie den Soli zu decken sei. Ärgert Sie dieser Widerspruch nicht?
Dem BFH vorzuwerfen, dass er widersprüchlich handelt, ist immer schwer. Aber in der Tat steht der heutige Soli in keinem Verhältnis mehr zu dem, was ihn einmal ausgemacht hat. Und deshalb kann und muss man durchaus von einer Dauerfinanzierung sprechen, die den Bedarf anderweitig deckt. Nach wie vor nimmt der Bund elf Milliarden Euro ein, obwohl der Bedarf für den Aufbau Ost vielleicht höchstens noch im niedrigen einstelligen Milliarden-Euro-Bereich liegt. Was ich damit sagen will: Früher hielten sich die Einnahmen und der zweckgebundene Aufwand die Waage. Nun füllt der Bund keinen Topf mehr, sondern nur einen Bundeshaushalt. Für andere Ausgaben wie die Corona-Beihilfen oder die Bundeswehr müsste und könnte der Bund andere Instrumente finden.
Höhere Steuern will aber doch auch niemand. Auch die Übergewinnsteuer ist in Unternehmen – und damit oft bei Besserverdienenden – verpönt. Wie soll der Staat sich denn sonst finanzieren?
Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Aus einem Finanzierungsbedarf erwächst nicht das Recht, sich aus unserer Sicht verfassungswidriger Finanzierungsformen zu bedienen. Und ich bitte um Verständnis, dass wir dem Gesetzgeber keine Vorschläge machen werden, wie er seine Finanzierung verfassungsgemäß gestalten könnte, obwohl wir sie kennen. Man muss hier Dinge voneinander trennen: Wir behaupten ja nicht, dass der Staat keinen Finanzierungsbedarf hat und auch nicht, dass Besserverdienende nicht durchaus mehr zahlen können. Das tun sie im Übrigen seit jeher. Wenn der Staat davon überzeugt ist, dass er potente Steuerpflichtige stärker zur Kasse bitten muss, hat er dafür einen Werkzeugkasten: Er kann nämlich an der Einkommensteuer drehen. Das ist ja genau der Punkt, warum wir die Verfassungsmäßigkeit des Solis anzweifeln. Der Bund hat die Länder quasi übergegangen und spätestens ab 2020 fälschlicherweise den Soli statt einer Einkommensteuererhöhung gewählt. Davon abgesehen ist das Urteil ein falsches Signal an den Gesetzgeber: Der Bund könnte sich motiviert sehen, die Ergänzungsabgabe als Standardlösung zu nutzen, um fortlaufend Steuermehreinnahmen – nur für den Bund – zu generieren.
Er muss aber auch damit rechnen, dass sich die Steuerpflichtigen, die den Beitrag gezahlt haben, das Geld in Zukunft eventuell auch wieder werden zurückholen können.
Die Wahrscheinlichkeit halte ich jetzt für praktisch sehr gering. Die Gemengelage wäre anders, hätte der BFH zu unseren Gunsten entschieden und selbst vorgelegt. Aber nun kann man eigentlich kaum auf rückwirkende Erstattung hoffen.
Auch den zweiten Punkt Ihrer Argumentation, nämlich der steuerlichen Ungleichbehandlung, hat der BFH kassiert. Er sagt die „darin liegende Ungleichbehandlung“ sei gerechtfertigt. Damit behandelt er den Soli doch wie eine weitere Progression in der Einkommensteuer.
Der Soli war in seiner ursprünglichen Form – und das ist er per Definition immer noch – eine Abgabe, die alle Einkommensteuerpflichtigen betraf. So hieß es in der Gesetzesbegründung zum Soli 1995, dass er eine Solidarität ‚Aller‘ verlange. Jetzt gibt es nur eine Solidarität ‚Weniger‘. Und er wird ja auch jetzt nicht nur von den ‚Besserverdienenden‘ bezahlt. Jedes Mal, wenn Kapitalertragsteuer von 25 Prozent anfällt, kommt der Soli on top. Baue ich also ein kleines Depot für die Ausbildung meine Kinder auf, zahle ich auch weiterhin vom ersten Euro Dividende. Und selbst wenn ich den Beitrag ‚nur‘ bei fünf Prozent nach Aufwand beziehungsweise zehn Prozent nach Köpfen erhebe, frage ich mich durchaus, ob das noch dem Solidargedanken entspricht. Uns war natürlich auch klar, dass der BFH unser Ansinnen nicht einfach so durchwinkt. Die rechtlichen Anforderungen an die Vorlagepflicht des BFH setzen eine Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit für 2020 bzw. 2021 voraus. Zweifel, auch große Zweifel reichen nicht. Der BFH hat diese Überzeugung für die Jahre 2020 und 2021 nicht gewinnen können, aber deutlich gemacht, dass er dies in den kommenden Jahren anders sehen könnte. Das Problem wird also durch dieses Urteil nicht einfach verschwinden, sondern sich weiter verschärfen. Insofern bin ich auch überrascht, dass der Senat sich zum Teil sehr nebulös ausdrückt.
Was meinen Sie mit nebulös?
Das Urteil ist in seiner Begründung an vielen Stellen allgemein gehalten, erinnert stark an die Entscheidung des BFH aus dem Jahre 1972 in rechtlich ähnlichem aber unseres Erachtens im Detail eben nicht gleichem Sachverhalt. Es wäre wünschenswert gewesen, der BFH hätte die Chance genutzt, die Voraussetzungen aber eben auch die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit konkreter zu beschreiben. Das hätte nicht nur die fortgesetzte Bewertung des Solidaritätszuschlages für die Veranlagungszeiträume ab 2022 erleichtert, sondern auch die Anforderungen an eine Ergänzungsabgabe generell geschärft.
Zu einem Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wird es nach dem BFH-Urteil nicht kommen. Legen Sie nun Verfassungsbeschwerde ein?
Dafür haben wir nun vier Wochen Zeit – seit Urteilsverkündung. Die Anforderungen sind hoch, um die Zulässigkeitsschwelle zu erreichen. Wir sind noch nicht sicher, ob wir das wirklich machen. Was wir auf keinen Fall tun werden: Eine halbherzige Verfassungsbeschwerde einreichen.
Das Urteil zielte nur auf die Jahre 2020 und 2021 ab. Den Soli zahlen Ihre Mandanten aber auch heute noch. Sind die Chancen für das Jahr 2022 größer?
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand das wieder überprüfen lässt. Der Soli ist ja nicht nur von uns angegriffen worden, es gibt ja auch einige Parallelverfahren – die aber zu dem gleichen Ergebnis führen werden. Was in den Folgejahren passiert, steht auf einem anderen Blatt.